während die junge Lehrerin auf dem Boden ihrer Badewanne lag. Der Junge behauptete, er habe das Bewusstsein verloren und sei ihm Wohnzimmer des Opfers wieder zu sich gekommen.
Servaz lehnte sich zurück und dachte nach. Das Verbrechen war auf eine kunstvolle Weise inszeniert worden. Wieder sah er vor seinem geistigen Auge das Bild von Claire Diemar, die gefesselt und mit einer Lampe im Rachen in ihrer Badewanne lag. Plötzlich war er fest davon überzeugt, dass dies kein Erstlingsversuch war – ein solches Vorgehen sprach für einen erfahrenen Mörder, nicht für einen Anfänger. Gleichzeitig deutete es auf eine schwer gestörte Persönlichkeit des Täters hin. Servaz erkannte eine Art Ritual. Und so eine Ritualisierung war ein typisch für Serientäter … Er fragte sich, ob dies hier der Anfang einer Serie war oder ob die Serie schon länger im Gang war. Schon beim ersten Anblick der Leiche war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, aber er hatte ihn verworfen, weil Serienmörder selten waren, auch wenn Filme und Romane einen anderen Eindruck erwecken. Kein Kripo-Beamter dachte spontan an einen Serientäter: Die meisten von ihnen waren noch nie einem begegnet. Hirtmann? Nein, das konnte nicht sein. Trotzdem beunruhigte ihn vor allem Frage Nr. 7. Er konnte einfach nicht glauben, dass der Schweizer irgendetwas mit diesem Fall zu tun hatte; das wäre einfach zu unwahrscheinlich – und es würde vor allem bedeuten, dass Hirtmann sein Leben und seine Vergangenheit allzu gut kannte. Aber dann fiel ihm wieder ein, was der Mann in Paris erst heute Morgen gesagt hatte, an diese Geschichte mit dem Motorradfahrer auf der Autobahn … Auch das konnte er kaum glauben. Hatten die Mitglieder der Sondereinheit, die nach dem Schweizer fahndete, vielleicht so viele Phantome verfolgt, dass sie schließlich Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten konnten?
Er ging hinter den Küchentresen, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete die Schiebetür zum Balkon.
Er trat ans Geländer und suchte mit den Augen die Straße ab. Als hätte der Schweizer irgendwo da im Regen stehen und die kleinste seiner Bewegungen und Gesten ausspähen können. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Straße war menschenleer, aber er wusste, dass Städte in der Nacht niemals ganz schliefen. Wie um ihm Recht zu geben, fuhr mit Blaulicht und Sirene ein Polizeiauto vorbei, zwischen den Reihen der eng parkenden Autos hindurch, und als es verschwand, ging das Heulen der Sirene allmählich in dem permanenten „Stand-by“-Summen der Stadt auf.
Er ging wieder hinein und schaltete seinen Computer ein, um wie jeden Abend vor dem Schlafengehen seine Mailbox zu checken. Werbemails boten ihm superbillige Bahnreisen quer durch Europa an, unschlagbar günstige Hotels am Meer, Ferienvillen in Spanien, Kontakte mit Singles … Plötzlich blieb sein Blick an einer E-Mail hängen, in deren Betreff-Zeile „Grüße“ stand.
Servaz spürte, wie das Blut in seinen Adern erstarrte. Die Nachricht stammte von einem gewissen Theodor Adorno.
Er bewegte die Maus und klickte darauf:
Von:
[email protected] An:
[email protected] Datum: 12. Juni
Betreff: Grüße
[Erinnern Sie sich an den ersten Satz der Vierten, Commandant? Bedächtig … Nicht eilen … Recht gemächlich … Das Stück, das gerade lief, als Sie an jenem berühmten Dezembertag mein ‚Zimmer‘ betraten? Schon lange will ich Ihnen schreiben. Erstaunt Sie das? Sie werden mir ohne weiteres glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich in letzter Zeit sehr beschäftigt war. Freiheit weiß man, so wie Gesundheit, erst dann richtig zu schätzen, wenn man sie lange entbehrt hat.
Doch ich will Sie nicht weiter belästigen, Martin. (Erlauben Sie mir, dass ich Sie Martin nenne?) Auch mir sind aufdringliche Menschen ein Graus. Ich werde bald wieder von mir hören lassen. Ich bezweifle, dass Ihnen meine Neuigkeiten gefallen werden – aber ich bin mir sicher, dass Sie ihnen etwas abgewinnen können.
Herzliche Grüße, JH.]
16
Nacht
Der Mond tauchte kurz auf und verschwand wieder hinter den Wolken. Der Lärm des Regens, der auf die Ziegel hämmerte, drang durch das offene Fenster, die Feuchtigkeit klebte an ihrer Haut wie ein nasses Laken, und die Tropfen schlugen auf den Boden zu ihren Füßen, doch Margot blieb vor dem Fenster stehen, ohne sich zu rühren. Sie zog an ihrer Zigarette. Sie erstickte schier in ihrem kleinen Mansardenzimmer.
Rauchen war verboten,