Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
aber das war ihr piepegal. Ihr Top haftete an ihrer glühenden Haut, der Schweiß lief ihr den Rücken und die Achseln hinunter. Sie sah auf die Uhr. 0:10 Uhr. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest. Und sie schnarchte. Wie immer.
Margot fragte sich, wer mehr Lärm machte, der Sommerregen oder sie. Sie mochte dieses etwas pummelige und schüchterne Mädchen, aber ihr Schnarchen machte sie fertig. Zum Glück tönte aus den Ohrhörern ihres iPods Welcome to the Black Parade von My Chemical Romance. Sie hatte bohrende Kopfschmerzen. Vor einer Viertelstunde hatte sie noch über ihrer Hausarbeit in Philosophie gebrütet.
Sie lehnte sich aus dem Fenster und warf einen Blick auf den alten, von Efeu überzogenen Rundturm an der Stelle, an der die beiden Gebäude zusammenstießen. Ihr Gesicht und ihre Schultern wurden im Regen ganz nass. Im Büro des Schulleiters ganz oben im Turm brannte Licht. Wie so oft um diese Uhrzeit. Der Fettsack lud sich wahrscheinlich gerade Pornovideos herunter, während seine Alte pennte.
Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.
Sie hatte ihn mehr als einmal dabei ertappt, wie er klammheimlich den Mädchen auf die Beine glotzte, und sie war fest überzeugt, dass ihm ständig schweinische Gedanken durch den Kopf gingen.
Am Rand ihres Gesichtsfeldes leuchtete etwas auf, und sie blickte Richtung Park. Wider blitzte ein Licht auf. Einmal. Zweimal … Dann nichts mehr.
Mist, Elias , dachte sie. Du bist wirklich bescheuert!
Sie schmiss ihre noch glühende Kippe zum Fenster hinaus und schloss es. Ihr Notebook, das aufgeklappt auf dem Bett lag und im Halbdunkel leuchtete, schaltete sie aus. Sie streifte khakifarbene Shorts über ihren String, zog ihren Nietengürtel durch die große versilberte Schnalle und schlüpfte mit den nackten Füßen in neongelbe Turnschuhe.
An der Wand über ihrem Bett zeigten drei Horrorfilmposter verschiedene Figuren: 1. Die Hauptfigur von Halloween – Die Nacht des Grauens , 2. Pinhead, der Zenobit mit dem nadelstarrenden Gesicht aus Hellraiser, und 3. Freddy Krueger, der Schwarze Mann mit dem brandnarbigen Gesicht, der die Jugendlichen in der Elm Street in ihren Albträumen verfolgt. Sie liebte Horrorfilme. Ebenso wie Metal Music, die Romane von Ann Rice, von Poppy Z. Brite und Clive Barker. Sie wusste, dass ihre belletristischen, musikalischen und filmischen Vorlieben nicht zu Marsac passten und dass keiner dieser Autoren jemals auf der Lektüreliste der Khâgne auftauchen würde. Lucie gab sich zwar große Mühe, ihrer Mitbewohnerin zu gefallen, hatte aber doch gegen die Wahl dieser Poster protestiert, die sie jeden Abend beim Einschlafen vor Augen hatte. Genauso wie sie gegen Margots Gewohnheit protestiert hatte, in ihrem Zimmer zu rauchen, wenn auch bei offenem Fenster.
Margot beugte sich über das kleine Waschbecken, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und wusch sich unter den Armen.
Dann richtete sie sich wieder auf und betrachtete sich im Spiegel. Die beiden Rubin-Piercings, eines in der Augenbraue, das andere unter der Unterlippe, strahlten im Neonlicht wie kleine rote Sterne. Mit ihrer schlanken Figur, den muskulösen Beinen und den halblangen dunklen Haaren unterschied sie sich von den anderen Mädchen von Marsac, und sie war stolz darauf.
Die Schranktür quietschte leise, als sie sie öffnete, um ihren K-way von einem Bügel abzustreifen, und Lucie maunzte im Schlaf.
Der Gang war menschenleer und dunkel. Unter den Türen der „ taupins “ – den Mitschülern vom naturwissenschaftlichen Zweig – am Ende des Ganges brannte noch Licht. In manchen Zimmern erlosch es nicht vor drei Uhr morgens. Dennoch war es auf dem Flur vollkommen still. Auf leisen Sohlen schlich sie zur Treppe, und sie spürte den Geist dieses fast dreihundert Jahre alten Gebäudes schwer auf ihren Schultern lasten. Sie ging die Treppe hinunter.
Mit kindlicher Freude trat sie in das Gewitter hinaus. Der warme Regen prasselte ihr auf die Kapuze, als sie an der Mauer der ehemaligen Pferdeställe entlangging. Dann streifte sie quer durch die aufgeweichte Wiese bis zur ersten Hecke; von dort bahnte sie sich einen Weg, auf dem sie unsichtbar war. Sie blieb zwischen der Hecke, dem Stamm eines Kirschbaums und einer hohen Statue auf einem Sockel stehen. Sie hob den Kopf. Die Statue sah aus ihren leeren Augen auf sie herunter.
„Hallo!“, grüßte Margot. „Ein Dreckwetter, oder?“
Von den großen Blättern des Kirschbaums tropfte es auf sie herab. Sie ging weiter, an der Hecke
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