Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
entlang. Es war noch ein kleines Stück bis zum Eingang des Labyrinths. Die Schulleitung hatte mehrmals erwogen, es zu schließen, ja sogar es dem Erdboden gleichzumachen, weil Neulinge hier mehrmals schikaniert worden waren und es außerdem Fälle von „unangemessenem Verhalten“ zwischen Schülern beiderlei Geschlechts gegeben hatte – aber das Labyrinth stand, wie das Hauptgebäude, unter Denkmalschutz, und so durfte es nicht angetastet werden. Daher hatte sich die Schulleitung damit begnügt, eine Kette mit einem Schild anzubringen: „PRIVAT. ZUTRITT FÜR SCHÜLER VERBOTEN!“ Das freilich schreckte nur die Bravsten unter ihnen ab, und zu denen gehörte Margot nicht. Sie schlüpfte unter der Kette durch.
Zu dieser Uhrzeit war das vom Regen überflutete Labyrinth nicht gerade der angenehmste Ort, den man sich vorstellen konnte. Erschauernd verfluchte sie Elias.
„WO BIST DU?“, schrie sie durch den prasselnden.
„Hier.“
Die Stimme kam direkt von vorne, aber die hohe Hecke versperrte den Durchgang. Der erste Gang des Labyrinths verlief in gerader Linie bis zu seinen beiden äußersten Ecken, rechts wie links.
„Okay. Entweder du sagst mir, in welche Richtung ich gehen soll, oder ich geh wieder rein.“
„Nach links“, antwortete er.
Sie ging los. Ein Kichern.
„Nein, nach rechts.“
„Elias!“
„Nach rechts, nach rechts …“
Sie kehrte um. Die Regenjacke raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Sie hatte den Eindruck, sich in einer Blase zu bewegen. Am Ende des Gangs bog sie um die Ecke. Zwei Meter weiter gab es links eine weitere Abzweigung, dann noch eine, nach rechts, unmittelbar danach … Schließlich eine Gabelung mit drei Möglichkeiten: geradeaus, rechts oder links.
„Wohin soll ich gehen?“
„Nach links.“
Sie gehorchte, ging noch um zwei weitere Biegungen herum und sah ihn schließlich auf einer teils von Moos bewachsenen Steinbank sitzen, wo er seine endlos langen Beine vor sich ausstreckte. Elias trug keine Kapuze, und seine braunen Haare klebten ihm am Schädel, die triefenden langen Haarfransen bedeckten fast sein ganzes Gesicht.
„Elias, du bist echt ein Spinner!“
„Ich weiß.“
Sie wischte sich über die Nasenspitze.
„Verdammt, wenn uns jemand sehen würde, würde er uns für bekloppt halten.“
„Immer mit der Ruhe, da kommt keiner.“
„Das kann ich mir denken!“
Elias und Magot waren in derselben Klasse. Anfangs hatte sie diesem staksigen langen Elend, der sich hinter seinen tief in die Stirn hängenden Haaren wie hinter einem Vorhang versteckte, weiter keine Beachtung geschenkt. Während der Pausen saß er die meiste Zeit abgesondert von den anderen in einer Ecke des Schulhofs, wo er rauchte und las. Er sprach nur dann, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und seine Misanthropie hatte ihm nicht wenige schiefe Blicke, bissige Bemerkungen und Spötteleien eingetragen. Als „asozial“, „bescheuert“, „abgehoben“ wurde er am häufigsten betitelt. Und auch als „Jungfrau“, von den Mädchen. Allerdings schien es Elias völlig egal zu sein, was man von ihm hielt. Genau das hatte Margot irgendwann neugierig gemacht – und sie dazu veranlasst, sich dieser Bohnenstange anzunähern. Beim ersten Annäherungsmanöver im Pausenhof war sie sich der Blicke auf sie durchaus bewusst, aber genauso wie Elias war es auch ihr völlig egal, was die anderen dachten. Außerdem hatte sie sich anders als er in der Schule ein genügendes Netz von Freundschaften aufgebaut.
„Pass bloß auf“, hatte er ihr gleich am Anfang gesagt, „du könntest dich anstecken, wenn du mir zu nahe kommst.“
„Mit welcher Krankheit?“
„Der Einsamkeit.“
„Deine misanthropische Seite beeindruckt mich nicht im Geringsten.“
„Was tust du dann hier?“
„Ich versuche etwas herauszufinden.“
„Was?“
„Ob du ein Genie bist, ein Vollidiot oder einfach nur ein aufgeblasener Wichtigtuer.“
„Da liegst du völlig daneben, meine Liebe. Stiehl mir nicht meine Zeit mit deinem Psycho-Scheiß.“
So hatte es angefangen. Sie fühlte sich von Elias nicht körperlich angezogen. Aber es gefiel ihr, wie er ganz komplexfrei zu seiner Andersartigkeit stand. Margot hob den Kopf. Der Mond dort oben nickte ihr kurz zu, als die Wolken kurz aufrissen, und sogleich verschwand er wieder. Elias hielt ihr seine Schachtel Zigaretten hin, und sie fischte sich eine heraus.
„Hast du das von Hugo gehört?“
„Klar. Alle reden nur noch davon.“
„Dann weißt du ja, dass man ihn
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