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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Kaminen und dem wilden Wein gut hundert Jahre alt sein mochte. Für eine Mutter und ihren Sohn viel zu groß und schwer zu unterhalten, sagte er sich. Das Tor stand offen, und Servaz fuhr auf dem Kiesweg unter den hoch aufragenden Tannen hindurch bis zu den Stufen der Freitreppe. Als er oben war, hörte er, dass Marianne ihn durch die offene Tür herbeirief, und er ging durch die Zimmerflucht bis zur Terrasse.
    Noch immer fegte der Regen über den See. Eisvögel tanzten über seine aufgeraute Oberfläche, ehe sie hinabstießen und unter einem Bogen von Tröpfchen mit ihrem Abendessen im Schnabel genauso schnell wieder emporstiegen. Links hinter den anderen Anwesen erblickte er die Dächer von Marsac und den dunstverschleierten Kirchturm. Gegenüber, am anderen Ufer, erstreckte sich ein dunkler Wald und das, was die Ortsansässigen „den Berg“ nannten: Ein Felsmassiv, das einige Dutzend Meter über die Oberfläche aufragte.
    Marianne deckte gerade den Tisch. Er blieb kurz stehen, um sie im Schutz der Dunkelheit zu betrachten. Sie trug ein vorn geknöpftes khakifarbenes Tunikakleid mit zwei Brusttaschen und einem schmalen Flechtgürtel, die ihr ein beinahe militärisches Aussehen gaben. Ungewollt fielen Servaz ihre gebräunten nackten Beine auf. Sie trug keinen Schmuck am Hals, lediglich ihre Lippen waren leicht geschminkt. Wegen der Hitze hatte sie einen Knopf aufgemacht.
    „Was für ein Wetter“, sagte sie. „Aber wir lassen uns davon nicht unterkriegen, oder?“
    Sie sprach ohne innere Überzeugung, ihre Stimme war so hohl wie eine Blechdose. Als sie ihn auf die Wange küsste, schnupperte er unwillkürlich an ihr.
    „Das hab ich mitgebracht.“
    Sie nahm die Flasche, warf einen kurzen Blick auf das Etikett und stellte sie auf den Tischläufer. Dann deckte sie den Tisch weiter.
    „Der Korkenzieher ist da“, fügte sie nach einer Weile hinzu, da er untätig herumstand.
    Sie verschwand im Haus, und er fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, diese Einladung anzunehmen. Er wusste, er hätte nicht hier sein dürfen, für den kleinen Anwalt mit dem durchdringenden Blick war das ein gefundenes Fressen, wenn Hugo verurteilt würde. Und seine Gedanken kreisten nur noch um die Ermittlungen, es würde ihm schwerfallen, über etwas anderes zu sprechen. Er hätte Marianne vorschriftsgemäß befragen müssen, aber er hatte die Einladung einfach nicht abschlagen können. Nach all diesen Jahren … Er fragte sich, ob Marianne wusste, was sie tat, als sie ihn einlud. Plötzlich, ohne zu wissen warum, war er auf der Hut.
     
    „WARUM?“
    „Warum was?“
    „Warum bist du nie zurückgekommen?“
    „Ich weiß nicht.“
    „Kein einziger Brief, keine E-Mail, keine SMS, kein Anruf – in zwanzig Jahren.“
    „Vor zwanzig Jahren gab es noch keine SMS.“
    „Falsche Antwort, Herr Polizist.“
    „Tut mir leid.“
    „Auch das ist keine Antwort.“
    „Es gibt keine Antwort.“
    „Gibt es sehr wohl.“
    „Ich weiß nicht … es … es ist lange her …“
    „Eine fromme Lüge, aber trotzdem eine Lüge.“
    Schweigen.
    „Frag mich nicht“, sagte er.
    „Warum nicht? Ich hab dir geschrieben. Mehrere Briefe. Du hast nie geantwortet.“
    Sie musterte ihn mit ihren grasgrünen Augen, die im Schatten ihres Gesichts funkelten. Wie früher.
    „Es ist wegen Francis und mir, nicht wahr?“
    Wieder keine Antwort.
    „Antworte!“
    Er starrte sie schweigend an.
    „Das ist es also … Guter Gott, Martin! … Du hast all diese Jahre nur wegen Francis und mir geschwiegen?“
    „Möglich.“
    „Du bist dir nicht sicher?“
    „Doch, doch, das bin ich. Mein Gott, was soll das alles heute noch?“
    „Du wolltest uns bestrafen.“
    „Nein, ich wollte einen Schlussstrich ziehen. Vergessen. Und es ist mir gelungen.“
    „Ach ja? Und diese Studentin, die du nach mir kennengelernt hast? Wie hieß sie noch gleich?“
    „Alexandra. Ich habe sie geheiratet. Dann haben wir uns scheiden lassen.“
    Seltsam festzustellen, dass sich ein Leben in einigen Sätzen zusammenfassen lässt. Seltsam und deprimierend.
    „Und hast du heute jemanden?“
    „Nein.“
    Schweigen.
    „Deshalb also führst du dich auf wie ein Tollpatsch“, versuchte sie zu scherzen. „Du siehst aus wie ein alter Junggeselle, Martin Servaz.“
    Sie hatte in einem aufgesetzt heiteren Tonfall gesprochen, und er war ihr dankbar, dass sie die Atmosphäre aufzulockern versuchte. Die Dämmerung umhüllte sie. Gleichzeitig verzerrte der Wein etwas seine

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