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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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erklärt, kein Rauch ohne Feuer, der die Gerüchteküche aufmischt, der meinen Namen in den Schmutz zieht … Aber wie wäre es, wenn wir statt von meiner von Ihrer Karriere sprechen würden? Ich kann Ihnen helfen, Commandant. Ich habe mächtige Verbindungen. Auf regionaler wie auf nationaler Ebene. Meine Meinung findet an höchster Stelle Gehör.“ Lacaze holte tief Luft. „Ich zähle auf Ihre Diskretion. Und auf Ihre Loyalität. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche mir mindestens so sehr wie Sie, dass der Mistkerl, der das getan hat, gefunden wird – aber ich will auch, dass die Ermittlungen mit Augenmaß und Verstand geführt werden.“
    Sonst noch was! … Servaz spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das „ich werde mein Möglichstes tun, um Ihnen zu helfen“ war bereits vergessen. Lacaze bot ihm nicht weniger an als einen Handel. Auf gegenseitige Gefälligkeiten. Er stand auf.
    „Sparen Sie sich die Mühe. Ich bin seit fast zwanzig Jahren nicht mehr zur Wahl gegangen. Ich vermute, dass mich das zu jemandem macht, der für alle wahltaktischen Argumente wenig empfänglich ist. Ich habe eine letzte Frage.“
    Lacaze wartete.
    „Abgesehen davon, dass Sie das Gymnasium einmal jährlich besuchen: Kannten Sie die Khâgne auch schon vorher?“
    „Selbstverständlich, ich war Schüler in Marsac. Das ist … wie soll ich es Ihnen erklären? … ein ganz besonderer Ort. Ganz anders als …“
    „Schon gut. Ich weiß Bescheid.“
    Lacaze warf ihm einen erstaunten Blick zu. Servaz verließ das Büro und ging den Gang hinauf.
    Auf dem Weg ins Wohnzimmer wäre er beinahe in Lacazes Ehefrau hineingerannt. Aufrecht wie eine Eins stand sie vor ihm, und der Blick, den sie auf Servaz gerichtet hatte, war eiskalt. Sie hielt ein Whiskeyglas in der Hand, das sie an ihre blassen, dünnen Lippen führte, während sie ihn weiterhin herausfordernd ansah. Er verstand die unausgesprochene Botschaft: Sie wusste Bescheid – und auch sie hoffte, dass er schweigen würde. Allerdings aus anderen Gründen.
    „Sie haben Blut auf dem Kragen, auf der Rückseite“, stellte sie mit eisiger Stimme fest.
    „Entschuldigen Sie bitte“, stammelte er und lief rot an. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät gestört habe.“
    „Wer gaubt, nach dem Leben gäbe es nichts mehr, täuscht sich“, sagte sie, während sie den Boden ihres Glases betrachtete. „Es gibt das ewige Schweigen. Es ist nicht leicht, dem ins Auge zu sehen.“ Sie blickte zu ihm auf. „Verschwinden Sie!“
    Er durchquerte das Wohnzimmer in Richtung des großen Glasfensters. Sie sah ihm schweigend nach, als er über die Terrasse ging. Er fühlte sich erdrückt. Erdrückt von dem Gewicht der Dunkelheit, die hier herrschte. Erdrückt von dem Gewicht seiner eigenen Vergangenheit. Erdrückt von den Nachwirkungen dessen, was er da oben auf dem Dach erlebt hatte. Einen Moment lang blieb er unter dem Betondach stehen und betrachtete die schwarze, feindselige Landschaft. Der Schmerz trommelte noch immer auf der Rückseite seines Schädels, als wollte er ihn an etwas mahnen – aber woran? Servaz schlug den Kragen hoch und tauchte in bedrückter Stimmung in die Finsternis ein.

22
     
    Nostalgie
    Sie beugte sich über die Kloschüssel, um sich zu übergeben. Spülte sich den Mund. Putzte sich die Zähne. Spülte sich ein weiteres Mal den Mund. Dann stand sie auf und betrachtete das Gespenst, das sie aus dem Spiegel anstarrte. Herausfordernd sah sie es an, wie seit Monaten. Aber sie spürte, dass das Gespenst keine Angst mehr vor ihr hatte, dass es jeden Tag stärker wurde.
    Sichtbar hatte das Gespenst vor zehn Monaten in ihrem Hals zu wuchern begonnen, aber sie wusste, dass es schon viel länger da war. In Gestalt einer einzigen kleinen Ursprungszelle, die auf ihre Stunde wartete, um ihr tödliche Wirkung zu entfalten: Den Moment, in dem sie begann, sich in Tausende, Millionen und schließlich Milliarden unsterblicher Zellen zu teilen. Ironie oder Schicksal: Je mehr die unsterblichen Zellen wurden, umso näher rückte ihr eigener Tod. Zweite Ironie: Der Feind saß nicht draußen, sondern im eigenen Körper. Er war in ihr entstanden. Botenstoffe, Zellteilung, mutagene Substanzen, Tochtergeschwülste … Sie war inzwischen Spezialistin. Sie hatte das Gefühl, die Vermehrung der Krebszellen in ihrem Körper körperlich zu spüren; die Armeen des Krebses, die auf den Verkehrsadern ihres Kreislaufsystems unterwegs waren, besetzten die Auf- und Abfahrten, die Autobahnkreuze,

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