Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
hielt sich zurück. Als Politiker war gewieft genug, um zu wissen, wann man besser den Mund hielt.
„Und dieser Polizist, was wissen wir über ihn?“
„Er hat vor anderthalb Jahren Eric Lombard zu Fall gebracht“, antwortete er.
Schweigen in der Leitung. Der Minister dachte nach. Er sah auf die Uhr. 0:12 Uhr.
„Ich rufe die Justizministerin an“, entschied er. „Wir müssen diese Sache um jeden Preis unter Kontrolle halten, damit sie uns nicht um die Ohren fliegt. Und Sie rufen Lacaze an. Sagen Sie ihm, dass ich ihn sehen will. Morgen. Es ist mir egal, was in seinem Terminkalender steht.“
Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Er suchte die Telefonnummer Justizministerin heraus. Sie musste sich umgehend kundig machen, welche Staatsanwälte und Richter mit der Sache befasst waren.
Servaz sah auf die Uhr am Armaturenbrett. 0:20 Uhr. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Durfte er einfach so unangemeldet aufkreuzen? Wieder hatte er ihr Parfüm in der Nase, wie am Samstagabend, als sie ihn geküsst hatte. Er durfte, beschloss er. Statt nach Marsac zurückzukehren, ließ er das Wohnviertel hinter sich und fuhr weiter durch den Wald. Bei der nächsten Kreuzung bog er links ab. Die Straße führte geradewegs zum See. Nach einem Waldstück und einer letzten Kurve stieß er direkt auf Mariannes Haus, der ersten Villa am Nordufer. Durch die Bäume sah er Licht im Erdgeschoss. Sie war also noch nicht im Bett. Er fuhr bis ans Tor und stieg aus.
„Ich bin´s“, sagte er einfach, als er auf die Klingel gedrückt und es in der Sprechanlage rauschen gehört hatte, und er merkte, dass sein Herz etwas zu stark pochte.
Keine Antwort, nur ein Klicken; langsam ging das Tor auf, und er setzte sich wieder ans Steuer. Er rollte langsam über den Kies, seine Scheinwerfer glitten über die niedrig hängenden Äste der Tannen. Hinter den Fenstern schaute niemand, aber die Eingangstür stand offen.
Er zog sie hinter sich ins Schloss und ließ sich vom Geräusch des Fernsehers leiten. Mit seitlich eingezogenen Beinen saß sie zwischen lauter Kissen auf einem sandfarbenen Sofa und verfolgte eine Literatursendung. Ein Glas Wein in der Hand. Sie hob es ihm entgegen.
„Cannonau di Sardegna“, sagte sie. „Willst du ein Glas?“
Sein später Besuch schien sie nicht zu überraschen. Von diesem Wein hatte er noch nie gehört. Sie trug einen kurzen Seidenpyjama. Der helltürkise Satin betonte ihr blondes Haar, ihre hellen Augen und ihre braungebrannten Beine – sie war noch immer bezaubernd.
„Gern“, sagte er.
Sie richtete sich geschmeidig auf, holte ein großes Weinglas aus der Hausbar, stellte es auf den Couchtisch und füllte es zu einem Drittel. Der Wein war sicherlich gut, aber etwas zu vollmundig für seinen Geschmack. Allerdings musste er zugeben, dass er kein Kenner war. Sie hatte den Fernseher stummgeschaltet. Typisch Single, sagte er sich. Auch ohne Ton gab ein Fernseher einem das Gefühl, dass jemand da war. Sie wirkte erschöpft und traurig, sie hatte Ringe unter den Augen, war nicht geschminkt, aber er fand sie umso verführerischer. Aodhágán hatte Recht. Keine andere reichte an sie heran. Ungeschminkt, zerzaust und nur in diesem Pyjama hätte sie bei einer Abendgesellschaft alle anderen Frauen in den Schatten gestellt – egal, wie die sich mit Schmuck, Designerroben und frisch gestylten Frisuren aufdonnern mochten.
Sie setzte sich wieder. Er ließ sich neben sie auf das Sofa fallen.
„Was führt dich her?“ Sie wandte sich zu ihm hin und zuckte zusammen.
„Martin, dein Kragen und deine Haare sind ja voller Blut!“
Sie neigte sich vor, und er spürte, wie ihre Finger vorsichtig seine verklebten Haare auseinanderzupften.
„Du hast eine böse Wunde … Du musst zum Arzt … Wie ist denn das passiert?“
Er erzählte und nahm einen weiteren Schluck Wein. Er wusste, dass ihm nach noch ein oder zwei Schlucken schwindelig würde. Er warf einen Blick auf das Etikett: 14 Prozent, immerhin … Er erzählte ihr von den Überwachungsvideos der Bank, von der zweiten Person, dem Geräusch, der Verfolgung auf dem Dach.
„Bedeutet das … Bedeutet das deiner Meinung nach, dass die Person von der Aufnahme der wahre Täter ist?“
Er spürte, wie ihre Stimme vor Hoffnung zitterte. Vor gigantischer, maßloser Hoffnung.
„Möglich“, antwortete er vorsichtig.
Sie sagte nichts, aber er spürte, dass sie intensiv nachdachte, während sie mit ihren Fingerspitzen weiterhin mechanisch seine
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