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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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die Nebenstraßen ihrer Haargefäße und Lymphknoten, belagerten ihre Lungen, ihre Milz, ihre Leber, entsandten Metastasen bis in die Leisten und ihr Gehirn. Sie öffnete das Arzneischränkchen und suchte nach einem Medikament gegen Übelkeit. Füllte das Zahnputzglas mit Wasser. Abgesehen vom Alkohol hatte sie nichts im Magen, aber sie hatte keinen Appetit mehr. Die Chemotherapie hatte Anfang der Woche wieder begonnen. Sie summte Feeling Good. Die Version von Muse oder die von Nina Simone. Je näher der Tod rückte, umso mehr Lust hatte sie, zu singen. Birds flying high you know how I feel / Sun in the sky you know how I feel. Als sie aus dem Badezimmer kam, schnappte sie die Stimme aus dem Büro auf. Er hatte die Tür einen Spaltbreit offen stehen gelassen. Mit nackten Füßen schlich sie näher. Er hatte Schiss. Aufgeregt sprach er ins Telefon.
    „Wir haben ein Problem, sag ich dir. Dieser Polizist wird es nicht dabei bewenden lassen. Der ist zäh.“
    Sie legte eine Hand auf ihren Schal und ihre Perücke. Überprüfte deren Sitz. Wieder überkam sie der Brechreiz. Jäh war sie in Gedanken weit fort von hier . Planeten, die entstanden und vergeingen, erlöschende Sterne in den Tiefen des Weltraums, ein Baby, das zur Welt kommt, während ein anderer stirbt, eine Welle aus dem offenen Meer, auf der sie im Alter von fünfzehn Jahren auf einem Surfbrett reitet, eine Schubert-Sonate, die sie mit neunzehn unter dem Beifall von hundert Zuhörern auf dem Klavier spielt, Warane in einem Dschungel, eine Lagune, ein Vulkan, ein Rucksack, eine Weltreise, die sie mit achtundzwanzig mit einem viel älteren, verheirateten Mann unternommen hatte, den sie damals liebte … Ja, das wollte sie. Den Film zurückspulen … Alles noch einmal von vorn beginnen …
    Wieder hörte sie die panische Stimme durch die Tür.
    „Ich weiß, wie spät es ist! Ruf ihn an und frag ihn, was da los ist. Nein, nicht morgen, jetzt, verdammt! Er soll den Staatsanwalt aus dem Bett holen!“
    Wo warst du am Freitagabend und was hast du gemacht?
    Sie lächelte. Der Medien liebling hatte Schiss. Eine Mordsangst. Sie hatte ihn geliebt. Oh ja. Mehr als irgendjemanden sonst. Bis sie begonnen hatte, ihn zu verachten. Auch das mehr als jeden anderen. Ihre Verachtung entsprach ihrer einstigen Liebe. Gehörte das zu den Nebenwirkungen der Krankheit? Sie hätte sie doch eigentlich verständnisvoller machen müssen?#
    „In Ordnung. Ruf mich an.“
    Sie hörte, wie er auflegte, und sie schlich leise davon. Sie hatte gehört, wie er diesem Polizisten sagte, sie hätten den Abend zusammen vor einer DVD verbracht. Sie liebe amerikanische Komödien aus den Fünfzigern – die einzige Wahrheit in diesem Lügengespinst.
    Ein Herz und eine Krone! Beinah hätte sie laut aufgelacht. Sie stellte sich ihn als Gregory Peck und sich selbst als Audrey Hepburn vor, wie sie auf ihrer Vespa durch die Straßen von Rom flitzen. Vor zehn Jahren hätte dieses Bild gepasst. Ein perfektes Paar. Das alle bewunderten, ja beneideten … Bei jeder Abendgesellschaft, die sie besuchten, waren alle Blicke auf sie gerichtet – sie, die brillante und verführerische junge Journalistin, und er, der junge Politiker, der eine glänzende Zukunft vor sich hatte. Entzückte, neidische Blicke. Er war noch immer ein Politiker mit den schönsten Zukunftsaussichten …
    Seit einer Ewigkeit hatten sie sich keinen Film mehr zusammen angesehen.
    Sie hatte gehört, wie er über den Tod dieser Nutte gestöhnt hatte wie ein verwundetes Tier. Ohne sich um den Polizisten zu scheren, der vor ihm saß. Liebte er sie denn so sehr?
    Wo warst du am Freitag?
    Eine Sache war sicher: Zuhause war er an diesem Abend nicht gewesen. Ebensowenig wie sonst.
    Sie wollte es nicht wissen. Der Kampf gegen die Finsternis zehrte schon genug an ihr. Er mochte in der Hölle schmoren oder im Knast dahinvegetieren – aber erst nach ihrem Tod. Die Traurigkeit, die Einsamkeit und die Angst vor dem Tod schmeckten in ihrem Mund wie Gipsstaub. Aber vielleicht war auch das nur ein böser Streich des Gespensts in ihr. Sie wollte in Frieden sterben.
     
    Ziegler machte den Wandschrank auf, nahm nacheinander mehrere Uniformen heraus und legte sie aufs Bett.
    Eine Jacke aus marine- und königsblauem Gewebe mit zwei Streifen und der Aufschrift „GENDARMERIE“ auf dem Rücken und auf der Brust. Ein polarblauer Blouson mit verstärkten Ellbogen und Schultern. Mehrere langärmelige Poloblusen, zwei Hosen, drei enge Röcke, Hemden, eine schwarze

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