Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
blutverklebten Haare auseinanderzupfte.
„Das kann nicht so bleiben. Das muss genäht werden.“
„Marianne …“
Sie stand wieder auf und ging hinaus. Fünf Minuten später kam sie mit Wattebäuschen, Alkohol und einer Schachtel Steri-Strips zurück.
„Das wird nichts“, sagte er. „Oder du musst mir den Schädel rasieren.“
„Warum nicht?“
Ihm wurde klar, dass es ihr guttat, etwas zu tun, für kurze Zeit an jemand anders zu denken als an Hugo. Der Alkohol brannte, als sie die Wunde desinfizierte, und er verzog das Gesicht, als sie etwas zu fest drückte. Sie nahm einen Steri-Strip aus der Schachtel, entfernte den Schutzfilm und versuchte ihn über die Wunde zu kleben, gab es aber sogleich auf.
„Du hast Recht, ich muss dich rasieren.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Warte. Ich schau es mir noch einmal an.“
Sie beugte sich wieder über ihn. Ihre Finger nestelten noch immer in seinen Haaren herum. Sie war ganz nah. Zu nah … Er realisierte, wie dünn dieser Satin-Pyjama war, der ihn von diesem Körper trennte. Er spürte förmlich ihre gebräunte, warme Haut darunter. Er dachte an ihre Lippen, die fast zu füllig waren, so wie seine. Damals hatten sie darüber gelacht. Sie sagten, ihre Münder hätten sich gefunden. Mariannes Finger strichen zärtlich über seinen Nacken … Er wandte den Kopf um …
Sah das Leuchten in ihren Augen.
Er wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, dass es das allerletzte war, was er tun sollte. Die Vergangenheit war vergangen. Sie würde nicht wiederkommen. Es wäre nie mehr wie früher. Nicht bei ihrer Vergangenheit. Das war unmöglich. Sie würden allenfalls ihre schönsten Erinnerungen plündern, ihnen das meiste von ihrem Zauber rauben, den sie bis heute hatten. Noch konnte er die „Pause“-Taste drücken; er hatte Millionen gute Gründe dafür.
Aber eine gewaltige Woge brach über ihn herein. Mariannes Finger glitten wie Wasser durch seine Haare, und einige Sekunden lang sah er nur noch ihr Gesicht und ihre weit aufgerissenen Augen, die glitzerten wie ein See im Mondschein. Sie küsste ihn auf den Mundwinkel, und er spürte, wie sich ihre Hände, ihre Arme um ihn schlangen. Plötzlich erschien ihm die Stille dichter. Sie küssten sich. Sahen sich in die Augen. Küssten sich wieder. Es stimmte, was sie damals sagten: ihre Münder hatten sich gefunden. Er hatte nach Marianne und auch nach Alexandra andere Frauen gehabt, aber nie mehr hatte er solche Vertrautheit erfahren, nie hatte er sich mit einer Frau so gut ergänzt. Nur sie küsste ihn auf diese Weise.
Er zog ihr hastig den Pyjama aus, und sie liebten sich so, hätte nie etwas Trennendes zwischen ihnen gestanden.# Ihm war, als käme er nach Hause.
Ziegler war nicht müde. Sie hatte ihre Routine wieder aufgenommen, die sie Nacht für Nacht wach hielt. Ihre Passion, ihre Verfolgungsjagd. Sie aktualisierte ihre Informationen. Nach ihrem vierwöchigen Urlaub, in dem Zuzka sie gezwungen hatte, völlig abzuschalten, überarbeitete sie ihre Aufzeichnungen auf ihrem MacBook Air.
Die Fotos und Zeitungsausschnitte, die sie an die Wände ihrer Büroecke gepinnt hatte, zeugten von ihrer Obsession. Hätten sich die Pariser Zielfahnder, die Servaz kontaktiert hatte, Zugang Irène Zieglers Rechner verschafft, so hätten sie nicht schlecht gestaunt über die Menge an Informationen, die sie innerhalb weniger Monate über ihn zusammengetragen hatte: Julian Alois Hirtmann. Und vielleicht wären sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie eine ausgezeichnete Kollegin abgegeben hätte. Ganz offensichtlich hatte Ziegler viel über die Person gelesen. Tatsächlich hatte sie alles gelesen.
Die Gendarmin hatte in den Archiven der Schweizer Presse eine unerschöpfliche Fundgrube von Informationen über Hirtmanns Kindheit ausgemacht, über sein Jura-Studium an der Universität Genf, seine Karriere als Staatsanwalt, seine dreijährige Tätigkeit am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Eine Schweizer Reporterin hatte eingehend mehr oder minder weitläufige Verwandte, Nachbarn und Bewohner von Hermance befragt, der Kleinstadt am Genfer See, in der Hirtmann aufgewachsen war. In der Kindheit eines Serientäters finden sich immer Vorzeichen, das wissen alle Spezialisten: Schüchternheit, Einsamkeit, fehlende soziale Kontakte, ein Hang zum Morbiden, das spurlose Verschwinden von Haustieren in der Nachbarschaft, alles ganz klassisch … So hatte die Journalistin etwas entdeckt, was die Ermittler hatte
Weitere Kostenlose Bücher