Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
aufhorchen lassen. Im Alter von zehn Jahren hatte Hirtmann seinen jüngeren Bruder Abel verloren, der damals acht Jahre alt war – die Umstände waren weitgehend ungeklärt. Es war mitten im Sommer passiert, die beiden Brüder machten Ferien bei ihren Großeltern; die Eltern hatten sich gerade scheiden lassen. Die Großeltern hatten einen Bauernhof, ein typisch schweizerisches Gebäude mit Taubenschlag, Kühen, Gänsen, einem grandiosen Rundblick, unten blau, oben blau, in der Nähe des Thuner Sees im Berner Oberland, und hinter dem Haus standen die Gletscher „aufgereiht wie Teller auf einem Küchenbord“, wie es Charles Ferdinand Ramuz formulierte. Eine echte Postkartenidylle. Der Journalistin zufolge beschrieben verschiedene Zeugen den kleinen Hirtmann als Einzelgänger, der sich von den anderen Kindern fernhielt und nur mit seinem kleinen Bruder spielte. Bei ihren Großeltern unternahmen Julian und Abel gern lange Fahrradtouren in die Umgebung des Sees; dabei blieben sie oft den ganzen Nachmittag weg. Sie setzten sich ins fette Gras und beobachteten, wie am Fuß des gleichmäßig sanft abfallenden Hügels die weißen Boote kreuz und quer über den See fuhren, sie lauschten den Glocken, die im Tal gemächlich den Rhythmus der Stunden bestimmten, und hörten ihr fröhliches Glockenspiel wie Drachen in den Aufwinden emporsteigen.
Doch an diesem Abend war Julian allein heimgekehrt. Unter Tränen hatte er von einem Mann namens Sebald erzählt. Sein Bruder und er hatten ihn zu Beginn der Ferien kennengelernt und waren heimlich jeden Tag losgefahren, um sich mit ihm zu treffen. Sebald – ein etwa vierzigjähriger Mann – hatte ihnen „alles mögliche beigebracht“. An diesem Tag aber war er reizbar und seltsam gewesen. Als Julian ihm verriet, dass Abel zwei Basler Läckerli in seiner Tasche hatte, wollte Sebald probieren. „Ich wette, Abel ist Mamas Liebling, oder, Julian? Und dich hat sie nicht so lieb?“, hatte er gesagt. Aber sein kleiner Bruder weigerte sich hartnäckig, das Gebäck mit Sebald zu teilen. „Was machen wir da bloß?“, hatte dieser daraufhin mit einer übertrieben freundlichen Stimme gefragt, die sie beide erschauern ließ. Und als Abel Angst bekam und nach Hause wollte, befahl Sebald seinem Bruder, ihn an einen Baum zu binden. Der Junge wollte dem Erwachsenen gefallen, obwohl er sich gleichzeitig vor ihm fürchtete, und er gehorchte, so sehr ihn sein kleiner Bruder auch anflehte. Dann forderte der Mann ihn auf, Abel zur Strafe Erde und Blätter in den Mund zu stopfen, während sie vor ihm das Gebäck verzehren würden. In diesem Moment war Julian weggelaufen und hatte seinen kleinen Bruder bei dem Erwachsenen zurückgelassen.
Nach Julians Erzählung waren die Großeltern und die Nachbarn sofort losgestürzt, um Abel zu suchen, aber sie hatten keine Spur von ihm oder Sebald gefunden. Schließlich hatte der See eine Woche später Abels Leichnam ausgespuckt. Die Autopsie ergab, dass er ertränkt worden war. Trotz umfangreicher Ermittlungen war es der Schweizer Polizei nie gelungen, eine Spur von Sebald aufzunehmen oder auch nur den Nachweis zu erbringen, dass es ihn überhaupt gab.
Wie die Recherchen mehrerer Nachrichtenmagazine ergaben, war Hirtmann während seiner Studienzeit mit einem halben Dutzend Studentinnen zusammen, aber er hatte nur eine ernste Affäre gehabt: mit der Frau, die er später heiraten sollte. Seine ehemaligen Freundinnen waren wie seine Kommilitonen an der juristischen Fakultät von der Presse ausgequetscht worden, und ihre Aussagen wichen in vielen Punkten voneinander ab. Einige beschrieben ihn als völlig normalen Studenten; andere erwähnten, welche Faszination der Tod und alles Makabre auf ihn ausübten. So habe er oft bedauert, dass er statt Jura nicht Medizin studiert habe – und er habe sich erstaunlich gut in der Anatomie ausgekannt. In einem Interview der Tribune de Genève hatte eine Studentin namens Gilliane erklärt: „Er war interessant und witzig, überhaupt nicht Furcht einflößend oder bedrohlich. Im Gegenteil, er konnte die Leute mit Worten manipulieren, einwickeln. Auch die düstere Seite, die er sich gab, war faszinierend – seine Art, sich anzuziehen, seine Musik, seine Bücher, seine Art, einen anzusehen …“ Ein anderer Journalist hatte Verbindungen zwischen seinen verschiedenen Reisen in die Nachbarländer der Schweiz und dem Verschwinden mehrerer junger Frauen hergestellt. Mehrere Artikel befassten sich mit Hirtmanns dreijähriger
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