Kindheit bei Scientology: Verboten (German Edition)
eigentlich, so hat er es gelernt, müsste er in der Lage sein, jede Situation zu beherrschen. Er macht sich fertig für die Schule. Die Eltern schlafen noch. Er ist mit seinen Gedanken allein. Jemanden zu fragen, was ihn erwartet, traut er sich nicht. Schließlich kommt seine Mutter aus dem Schlafzimmer, sieht ihn an und fragt ihn, ob er fertig ist. Klar und tschüss. Den Schulweg hat er sich vorher schon einmal angesehen, alleine, denn er ist verantwortlich dafür, dass er hinkommt. So geht er ganz allein, er sieht auf dem Weg andere Kinder mit ihren Eltern und Schultüten im Arm. Doch er vermeidet den Kontakt, geht stur seinen Weg zur Schule. Dort angekommen wird er nach seinen Eltern gefragt. Er weiß keine Antwort. Die Lehrerin nimmt ihn mit in die Klasse. Edwin sitzt mit einem anderen Jungen zusammen. Der spricht ihn auch gleich an, wo er seine Schultüte denn hätte und was denn darin gewesen sei. Edwin antwortet lieber nicht. »Was will der bloß von mir?«, denkt er. Irgendwie übersteht er diesen ersten Schultag und geht – nein, nicht nach Hause, denn dort ist ja niemand. Sein Weg führt ihn mit Bus und Bahn in das Scientology-Gebäude. Der Junge, der neben ihm gesessen hat, war ja eigentlich ganz nett, aber er hatte auch dauernd gefragt, ob er ihm helfen könne, weil ja seine Eltern nicht da waren. »Was ist das für einer?«, denkt Edwin, denn er braucht keine Hilfe. Edwin weiß, dass er derjenige ist, der anderen hilft.
Im Scientology-Gebäude sieht er seine Mutter nur einen kurzen Moment, als sie in einem Raum verschwindet. Er selbst geht in seinen Kursraum, »Wortklären« ist heute dran. Denn er muss verstehen und lernen, wie man lernt. Außerdem will er eigentlich nicht wieder in die Schule. Irgendwie haben die sich alle komisch verhalten, nicht nur der Junge neben ihm. Ein kurzer Zweifel kommt auf, ob er nicht vielleicht doch mehr mit dem Jungen hätte reden sollen – aber der hätte ihn wohl doch nicht verstanden.
Schließlich fasst sich Edwin ein Herz, nachdem er eine Bestätigung bekommen hat, seine »Wortklärungsübungen seien erfolgreich abgeschlossen«. Er möchte dem Mann, der die Übungen beaufsichtigt hat, von seinem ersten Schultag erzählen. Zu seiner Erleichterung nimmt sich der Mann etwas Zeit und fragt den kleinen Edwin, ob man mit ihm in seinem Studium (das scientologische Lernen) schon den Abschnitt über Ausbildung durchnehmen könnte. Edwin weiß es nicht genau. Der Mann holt Kursmaterial aus dem Regal, um Edwin etwas vorzulesen. Bevor er sich wieder setzt, fragt er Edwin, warum er überhaupt in dieser Schule ist und nicht in Dänemark oder woanders. Sein Sohn sei zwei Jahre älter als Edwin, also acht Jahre alt und so glücklich in England, in Saint Hill. Das wäre doch eigentlich auch für Edwin das Richtige. »Klar«, denkt Edwin, »das muss toll sein, in England.« Doch er sagt nichts, denn erst einmal muss er begreifen, was falsch ist an der Schule, in der er heute Morgen war.
Der Mann erklärt ihm, dass L. Ron Hubbard herausgefunden hat, dass Ausbildung »Aberration« war. Also etwas Unvernünftiges. Das Grundproblem, das Hubbard erkannt und für das er Lösungen erarbeitet hat – und nun zitiert der Mann wörtlich:
»Das Leben war eifrig dabei, jemandem eine Lektion zu erteilen. Die Lektion, die es erfolgreich verabreichte, war, dass er nicht mehr leben sollte. Und diese kleine Lektion lag dann jeder weiteren Ausbildung zugrunde. Das geschah auf eine Weise, dass Ausbildung selbst als Aberration betrachtet werden konnte. Mit anderen Worten: Ausbildungssysteme waren faul und machten es sich leicht mit dem Spiel des MEST-Universums, jemandem beizubringen, nicht zu leben, und dem entsprachen wiederum die Lebensläufe. Aber schauen wir uns einmal an, wie Ausbildung durchgeführt wurde. Man brachte jemandem etwas bei, indem man sagte ›Schweine haben Schnauzen‹. Die Schüler sollten dazu nicht ›Ja‹ sagen, die Klasse sollte still sein.«
(Hubbard, Lafayette Ronald: Techniken für Kinder-Prozessing,
in: Einführungs- und Demonstrationsprozesse,
New Era Publications, Kopenhagen 1982, S. 188).
Edwin weicht dem erwartungsvollen Blick des erwachsenen Scientologen etwas aus, was zur Folge hat, dass dieser so eindringlich Blickkontakt zu ihm sucht, dass Edwin ihm schließlich in die Augen sieht und ein kurzes »fein« ausstößt. Der Mann nickt ihm zu, streichelt ihm übers Haar und lässt ihn dann allein. Etwas verwirrt sitzt Edwin noch auf seinem Stuhl, aber er
Weitere Kostenlose Bücher