Kindheit bei Scientology: Verboten (German Edition)
Balkon. Irgendwie ist ihm leicht, und er versucht, auf das Geländer zu klettern. Was ihn genau dazu bewogen hat, dieses zu tun, kann man nicht sagen. Doch es könnte durchaus mit der Idee verbunden sein, seinen Körper von dem »Thetan« endgültig zu lösen, um frei zu sein. Seine Großmutter jedenfalls hindert ihn daran, das Geländer des Balkons zu erklimmen. Der inzwischen eingetroffene Hausarzt will Edwin untersuchen, aber der möchte das nicht, und auch den Vorschlag, vorsichtshalber zur Beobachtung in ein Krankenhaus zu gehen, will er nicht annehmen. Seine Rettung vor dem von ihm so empfundenen Drangsalieren durch Großmutter und Arzt kommt in Gestalt seines Vaters, der plötzlich vor der Wohnungstür steht. Die Großmutter versucht, auf ihren Schwiegersohn einzureden, sie macht sich ernstliche Sorgen. Edwins Vater wird laut und bezichtigt sie der Lüge. Er nimmt seinen Sohn mit und bringt ihn zurück in die Scientology-Einrichtung zum »Fallüberwacher«.
Was eigentlich mit Edwin los war, wird sich nicht klären, aber irgendwann ist der Kleine davon überzeugt, dass er bei dem »Reinigungsprogramm« in der Sauna etwas erlebt hat, was viele anstreben und längst nicht alle erreichen: Sein »Thetan« hatte den Körper verlassen. Er hatte das Phänomen der »Exteriorisation« erlebt. Nachdem er für sich und sein scientologisches Umfeld die »logischste Erklärung« gefunden hat, ist das Erlebnis für ihn abgehakt. Kein Gedanke mehr daran, was passiert wäre, wenn seine Großmutter ihn nicht daran gehindert hätte, auf das Balkongeländer zu klettern. Wie gesagt, davon weiß er sowieso nichts mehr, und für ihn lügt seine Großmutter – wie schon öfter.
Edwins Erklärung für seinen Zustand bzw. seine eigene Interpretation dieses Zustandes nach dem »Reinigungsprogramm« gilt in der Organisation als erstrebenswert. Nach Hubbards Wortdefinition heißt es:
»Exteriorisation:
1. Die Handlung, sich mit oder ohne vollständige Wahrnehmung aus dem Körper hinauszubewegen.
2. Der Zustand des Thetan, des Individuums selbst, wenn er außerhalb seines Körpers ist.
Nachdem dies geschehen ist, hat die Person Gewissheit, dass sie sie selbst ist und nicht ihr Körper.«
(Hubbard, Lafayette Ronald: Das Phänomen des Todes, a. a. O., S. 41)
Denkbar ist, dass dieses vermeintlich »erstrebenswerte Ziel« einen gefährlichen Gedanken auslösen könnte: Selbstmord, den Körper (Maschine) als Thetan zu verlassen, um sich einen neuen Körper zu suchen. Die Aussage dazu ist so formuliert, dass ein Nicht-Scientologe sie kaum entschlüsseln kann:
»Der Mensch ist im Grunde gut. Er ist so gut, dass er sich selbst davon abhält, Böses zu tun. Notfalls dadurch, dass er sich selbst aus der Umgebung entfernt.«
(Kemming, Sabine; Potthoff, Norbert: Scientology-Schicksale.
Eine Organisation wird zum Störfall. Erfahrungsberichte,
Bergisch-Gladbach 1998, S. 387)
Man kann nur hoffen, dass in anderen Fällen, wenn Scientologinnen oder Scientologen, egal welchen Alters, der Auffassung sind, sie sollten sich »aus der Umgebung entfernen«, immer Menschen in der Nähe sind, die sie daran hindern.
Konflikt 1
Die Eltern des kleinen Edwin stellen im Laufe der Zeit fest, dass ihr Sohn auch deutlich Position gegen sie einnimmt. Der Vater, der ihn ermahnen will, wird mit Sprüchen wie »Welchen Fallgewinn hattest du denn heute?« abgetan. Die Mutter stellt eine Art Verachtung ihr gegenüber fest, die sie sich zu erklären versucht. Sie grübelt immer noch darüber nach, welche Schuld sie trägt, da ja der »Thetan« ihres Großvaters den Körper von Klein-Edwin ergriffen hat. Sie würde schon gern einmal darüber sprechen, auch mit ihrem Sohn. Aber das ist ihr laut Hubbard-Anweisung zur »Fall-Bewertung und Kinder« verboten. Diese Anweisung ist an alle gerichtet, die innerhalb von Scientology mit Kindern wie dem kleinen Edwin in Berührung kommen: alle Orgs, alle Missionen, alle Fallüberwacher und Auditoren, Eltern und Kindermädchen.
Der scientologische Konflikt, der die Mutter hin und wieder wegen ihres Großvaters plagt, ist somit gar nicht ihre Sache. Sie hat nichts damit zu tun und soll es auch nicht. Die Anweisung ist sehr deutlich:
»Manchmal kann man beobachten, dass vor Kindern von Eltern oder anderen Bewertungen oder Abwertungen über ihren Fall oder ihre Identität gegeben werden. Das sollte nicht gemacht werden. (…) Wenn das Kind über seine eigene Identität oder seinen Fallzustand spekuliert, ist die
Weitere Kostenlose Bücher