Kindsköpfe: Roman (German Edition)
mit ihm zu spielen. Beim Sport konnte er seinen Freund mit Leichtigkeit übertrumpfen; seit der beim Tischtennis-Rundlauf in der Schule in die falsche Richtung gerannt war und sich zum Gespött nicht nur der Jungs gemacht hatte, versuchte er alles zu meiden, was mit Bällen zu tun hatte.
Doch leider konnte Oliver die Erwartungen des Jungen nicht erfüllen, der ihn nach einer halben Stunde bat, von weiteren Bolz-Versuchen Abstand zu nehmen, er wolle lieber mit seinen Freunden spielen. Entsprechend war Olivers Laune, als Niklas und Lotte am Abend vollbepackt mit Taschen und Tüten heimkehrten.
»Sie ist keine Puppe, die man neu einkleiden muss, Niklas!«
»Nur kein Neid!«
Eine Woche später wollte sich Niklas mit dem Jungen ein Eishockeyspiel ansehen. Da seine Schwester keine Lust hatte und sich auch Olivers Begeisterung in Grenzen hielt, machten sich die beiden einen netten Nachmittag in der Stadt. Niklas staunte nicht schlecht, als ihm am Abend eine aufgemotzte Lotte mit ihren ersten Ohrringen entgegenstürmte. Er verausgabte sich mit Adjektiven und gratulierte der Kleinen zu ihrem neuen Outfit, dann schickte er sie auf ihr Zimmer und wandte sich besorgt an seinen Freund.
»Und was kommt als Nächstes? Eine Brustvergrößerung?«
Olivers blaue Augen machten auf unschuldig. »Ich hab immer gedacht, dass dir meine Titten gefallen.«
Danach verlagerten sie ihre Energien auf gemeinsame Besuche im Aquazoo, im Norden der Stadt – ein Vergnügen, das Inken den Kindern aus unerfindlichen Gründen vorenthalten hatte. Dabei liebten sie Tiere: Lotte war so angetan von den Pinguinen, dass man sie morgens vor dem Becken hätte absetzen und kurz vor Kassenschluss wieder einsammeln können, ohne dass sie sich einen Zentimeter von der Stelle gerührt hätte. Das Interesse ihres Bruders dagegen galt den Haifischen, aber noch mehr den Insekten. Besonders fasziniert war er von den Gespenstschrecken, die in Glasvitrinen an Ästen hingen, als machten sie Klimmzüge. Lotte hatte oft Schwierigkeiten, die als Zweige oder Blätter getarnten Insekten zu erkennen. Sie bettelte so lange, bis man ihr endlich des Rätsels Lösung zeigte, und wenn sie die Tiere endlich entdeckt hatte, lief sie jedes Mal schreiend davon.
Die Kinder schätzten den Aquazoo aber nicht nur wegen der Tiere, die es dort zu besichtigen gab. Sie konnten auch mit jedem Besuch ihr Repertoire an Schimpfwörtern erweitern, die sie auf der Heimfahrt im Auto aneinander ausprobierten.
»Alter Borstenwurm, du!«
»Bäh, gekerbte Seepocke!«
Niklas waren zoologische Begriffe allemal lieber als die Kraftausdrücke, die Lotte aus der Schule mitbrachte. Von »Scheiße« und »geil« mal abgesehen, kam ihr auch ein »Arschloch« beklagenswert leicht über die Lippen. Immer größerer Beliebtheit erfreute sich zudem das Wort »ficken«, wobei das Kind zum Glück deutliche Schwierigkeiten hatte, es in ein sinnvolles Satzgefüge einzubetten. Niklas’ Ansicht nach war die Begeisterung fürs Fluchen, die zusehends auch Hannes erfasste, dem Einfluss von Lottes japanischer Mitschülerin zuzuschreiben, deren Mutter die Erziehung dem Fernsehgerät überlassen hatte. Lotte hatte bereits Makis Frisur übernommen und trug ihre Haare seit jenem Nachmittag mit Oliver exakt kinnlang, was sie seltsam altklug erscheinen ließ; da sich Maki ihrerseits die Haare blondiert hatte, wirkten die Freundinnen mittlerweile wie siamesische Zwillinge. Niklas hatte nicht vor, die beiden zu trennen, obwohl er es gerne gesehen hätte, wenn Lotte mehr Zeit mit ihrem Bruder verbracht hätte. Doch eines Nachmittags verschanzten sich die Mädchen im Badezimmer und hörten lautstark eine CD von LaFee, die Maki mitgebracht hatte.
»Beweg dein’ Arsch, Babe! Komm, komm her zu mir!«, grölten sie stundenlang im Chor, während sie Luzie der Zweiten eine schwarze Tönung verpassten. Leider fielen ihr daraufhin büschelweise die Haare aus, und die Freundinnen tauchten den Kopf der Puppe in Olivers neues Haarwuchsmittel, bis die arme Luzie schließlich ganz kahl war.
»Scheiß-Krebs«, diagnostizierte Lotte fachmännisch, und ihre japanische Freundin meinte, es sei vielleicht ratsam, die »verkackte Chemo« abzusetzen.
Das mochte Niklas nicht länger mit anhören, und so schmiedete er einen Plan, um den Kindern die Flucherei auszutreiben. Alles, was er für die Umsetzung brauchte, hoffte er, auf dem Großmarkt zu finden. Dort, gegenüber dem Friedhof, wo sie Inken beerdigt hatten, fand sonntagvormittags ein
Weitere Kostenlose Bücher