Kindsköpfe: Roman (German Edition)
klingelte erneut das Telefon. Dankbar für die Ablenkung, hob Niklas diesmal selber ab, doch es meldete sich niemand. Er lauschte noch ein bisschen in die Leitung, bis er Oliver sagen hörte: »Auf eine Art sind wir doch ihre Eltern. Wir sorgen für Lotte und ihren Bruder. Wir tun alles dafür, dass sie sich wohl fühlen. Manchmal gehen sie uns ziemlich auf den Sender, aber das beruht vermutlich auf Gegenseitigkeit. Trotzdem wollen wir sie nicht mehr hergeben.«
Grinsend sah er zu Niklas, der nun endlich den Hörer auflegte.
»Wenn ich es mir überlege, ist das eine verdammt gute Definition.«
Die Stimmung war noch immer gedrückt; nur Maki pustete gelangweilt unter ihren Pony. Niklas platzierte die Tafel auf dem Küchenschrank, unerreichbar für die Kinder und erst recht für Frau Kobayashi, die zweimal die Woche zum Putzen kam und es fertigbrachte, bei der Gelegenheit auch die Tafel abzuwischen.
»Gelten die neuen Spielregeln schon?«, wollte Oliver wissen.
»Erst ab morgen. Damit sich alle daran gewöhnen können. Wie findet ihr es?«
»Geile Scheiße«, konstatierte Oliver, und die Kinder kreischten vor Begeisterung.
6 : Weniger ist manchmal mehr
Hin und wieder kam es Niklas ganz unwirklich vor, dass er und Oliver plötzlich eine kleine Familie waren, besonders wenn er daran zurückdachte, unter welchen Umständen sie sich kennengelernt hatten. Es war an einem vernebelten Novembernachmittag. Er hatte das ganze Wochenende am Schreibtisch verbracht und über eine Kampagne gebrütet, die er am nächsten Tag präsentieren sollte. Ein großer deutscher Hersteller von Knabberartikeln wollte die Einführung einer neuen Sorte mit »frechen« Spots in Radio und Fernsehen begleiten. Die Chips sollten nach Salz und Essig schmecken, und weil Niklas schon die Vorstellung ausgesprochen unappetitlich fand, war er über uninspirierte Sprüche wie Geben Sie Ihren Gästen Saures! und Variationen von Sauer macht lustig! noch nicht hinausgekommen. Außerdem bezweifelte er, ob sich die Kunden mit Salt-’n’-Vinegar-Chips locken ließen, bloß weil man das unappetitliche Wort Essig vermied.
So war er aus seiner Wohnung geflüchtet und hatte sich ins Auto gesetzt. Eine halbe Stunde später fand er sich in Köln wieder, wo ihm nichts Besseres einfiel, als in die Sauna zu gehen. Sein Rücken tat ihm weh, die Schultern waren verspannt, und wenn nebenbei ein wenig Sex bei der Sache herausspringen sollte, so hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt.
Der Whirlpool war fast leer. Ein älterer Herr nickte ihm zu, als sich Niklas in gebührendem Abstand niederließ. Er positionierte sich vor einer sprudelnden Düse, schloss die Augen und versuchte zu entspannen.
Essich-Chips? Essich gern!
Der Kunde wollte vor allem junge Käufer erreichen und wünschte sich eine entsprechende Ansprache, dabei waren die Hersteller von Knabberartikeln noch nie durch besonders originelle Kampagnen aufgefallen. Das beste Beispiel lieferte jener Spot, in dem ein gutfrisierter junger Mann in Ruhe sein Auto reparieren will, als plötzlich seine ebenso gutfrisierten Freunde in der Garage auftauchen und geräuschvoll mit der Chips-Tüte knistern, worauf der Hobbymechaniker all seine guten Vorsätze über den Haufen wirft und sich eine ausgelassene Garagenparty entspinnt, als hätte das debil kichernde Grüppchen ein Blech frischer Haschkekse geliefert.
So etwas war nicht schwer zu toppen, und Niklas hatte auch schon eine Idee: Man würde die Bilder einer Privat-Party zeigen, schnell zusammengeschnitten wie in einem Videoclip, und als alles vorbei ist, taumelt die müde Gastgeberin durchs Bild, die notdürftig die Wohnung aufräumt und lauter angebrochene Chipstüten einsammelt, die sie auf einem Tablett in die Küche trägt und, ähnlich wie in der alten Kaffee-Werbung, wo nach einer Damenrunde lauter halb volle Tassen zurückgeblieben waren, traurig beklagt: »Wieder alle Chipstüten nur halb leer geknabbert! Was mache ich bloß falsch?« Worauf eine Freundin besserwisserisch grinsend eine vakuumverschweißte Tüte mit Salt-’n’-Vinegar-Chips hinter ihrem Rücken hervorzieht.
Es fehlte nur noch die Schlusspointe, aber die wollte ihm ums Verrecken nicht einfallen.
Er öffnete die Augen. Im Pool wurde es lebhafter, die Besucher hatten sich deutlich vermehrt. Auf dem Schoß des älteren Herrn saß ein Junge mit blondierten Haaren. Links von Niklas aalte sich ein asiatischer Neuzugang im Wasser, nur der Platz rechts von ihm war noch frei. Vis-à-vis
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