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Kindspech: Tannenbergs achter Fall

Kindspech: Tannenbergs achter Fall

Titel: Kindspech: Tannenbergs achter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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Tannenberg erspähte ein Taxi, das gerade in die Hartert-Straße einbog. Er stellte sich mitten auf die Straße, stoppte es und hielt dem Fahrer seinen Dienstausweis unter die Nase. Nachdem dieser nicht gleich in gewünschter Weise reagierte, beschlagnahmte er kurzerhand das Taxi und brauste gemeinsam mit dem Pathologen in die Beethovenstraße.
    Als die beiden abgehetzt in der Küche eintrafen, saß der Großteil der Familie um den Küchentisch herum.
    »Marieke und deine Mutter sind zusammengebrochen«, erklärte Jacob mit gedämpfter Stimme. »Der Arzt ist bei ihnen.«
    »Ist es schlimm?«
    Jacob schüttelte den Kopf. »Nein, anscheinend nur der Kreislauf.« Er wies mit dem Kinn auf ein Päckchen, das inmitten des Holztisches stand. Er schluckte hart, bevor er stöhnend fortfuhr: »Aber das da ist schlimm, sehr schlimm sogar.«
    »Was ist denn das?«, fragte Tannenberg, den Blick gebannt auf die quadratische rote Pappschachtel geheftet, deren Deckelteile nach innen gerichtet emporstanden. Routinemäßig überprüfte er den Absender. »Saarbrücken«, murmelte er.
    Die Dramatik der Situation erkannte man auch daran, dass Jacob den Namen der saarländischen Landeshauptstadt – normalerweise ein rotes Tuch für ihn – diesmal völlig unkommentiert ließ.
    »Vielleicht sollte besser Rainer …«, schlug der Senior stattdessen vor.
    Dr. Schönthaler hatte in weiser Voraussicht bereits die dünnen Plastikhandschuhe übergestreift. Nun zog er das Päckchen zu sich an die Tischkante und drückte die Laschen behutsam nach außen. Das Pappkästchen war mit einem blütenweißen Samttüchlein ausgekleidet.
    Vorsichtig zupfte er es auseinander.
    Ihm blieb fast das Herz stehen.
    Auf dem weichen Stoff lag ein winziger kleiner Finger.
     
     
    9 Uhr 45
     
    Er saß im Arbeitszimmer. Sein Blick ruhte auf dem flimmernden Überwachungsmonitor. Er nickte zufrieden, schmunzelte. Das kleine Mädchen schlief tief und fest in seinem Gitterbettchen. Er ging ins Bad, entnahm dem Verbandskasten Mullkompressen, Pflaster und eine kleine Spraydose zur Wunddesinfektion. Dann streifte er einen mintfarbenen Mundschutz über und schlupfte in medizinische Einweghandschuhe. Anschließend begab er sich hinunter in den Keller.
    Mit seinem blonden Lockenköpfchen erinnerte ihn der süße Wurm an einen von Raffael gemalten Engel. Wie bei einer feierlichen Andacht faltete er die Hände vor dem Bauch und bestaunte minutenlang dieses wundersame Gottesgeschöpf. Er schloss die Augen und summte leise ein Ave Maria. Das auf der Seite liegende Mädchen trug eine orangenfarbene Sweatleggings und ein weißes Top mit putzigem Bären-Frontdruck. Kaum wahrnehmbar hob und senkte sich der kleine Thorax in gleichmäßigem, sanftem Rhythmus.
    Er entriegelte das Bügelschloss, klappte den Deckel auf und lehnte ihn an das zum Gefängnis umfunktionierte Kinderbettchen. Nun stieg er in den Käfig und kniete neben dem kleinen Körper nieder. Er hob die rechte Hand des Mädchens an und streichelte sie sanft. Behutsam zog er die angebrachten Klebestreifen ab und entfernte den Tupfer. Dann besprühte er die Wunde mit rötlichem Desinfektionsmittel, legte vorsichtig Mull darauf und befestigte ihn auf der rosigen, warmen Haut.
    Die nächste halbe Stunde brachte er im Wohnzimmer zu. Er hatte Mozarts Zauberflöte aufgelegt und hörte gerade seine Lieblingsstelle, die Arie der Königin der Nacht, als ein schrilles, quäkendes Geräusch an sein Ohr drang. Es stammte von dem Babyfon, das er neben dem Gitterbettchen installiert hatte. Damit wurde er über jede Regung seines Entführungsopfers informiert.
    Er hasste es, wenn er während des Musikgenusses gestört wurde. Übellaunig erhob er sich von seinem Ohrensessel, ging zur Stereoanlage und schaltete sie aus. Das nervtötende Geräusch des sich überschlagenden Schreiens empfand er nun als noch unerträglicher. Deshalb hielt er sich die Ohren zu. Mit der Fußspitze drückte er den Netzstecker des Babyfons aus der Wand. Wütend vor sich hingrummelnd, trottete er ins Arbeitszimmer und schaute auf den Monitor. Wie erwartet stand das kleine Mädchen weinend am Gitter. Es streckte die nackten Ärmchen durch die Stäbe, so als flehte es darum, endlich hochgenommen und getröstet zu werden.
    Die Kleine hat garantiert Hunger, dachte er. Oder eher Durst? Vielleicht beides. Dieses dünne Teezeug hält ja auch nicht lange vor. Und das Obstgläschen hat sie noch nicht einmal angerührt. Sie bekommt jetzt Kakao zu trinken. Der schmeckt gut und

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