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Kindspech: Tannenbergs achter Fall

Kindspech: Tannenbergs achter Fall

Titel: Kindspech: Tannenbergs achter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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schreibt der a. D.?«
    »Weil er sich wahrscheinlich wünscht, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausübe.«
    Sein alter Freund stimmte mit einer Kopfbewegung zu. »Womöglich wünscht er sich noch viel mehr, dass du deinen Beruf nie ausgeübt hättest. Womit wir wieder bei unserer Ausgangsfrage angelangt wären: Wer hätte einen Grund, dich zu tyrannisieren und mit dem Tode zu bedrohen.«
    »Mich und Emma«, korrigierte Tannenberg. Als er an die Kleine dachte, stiegen Tränen in ihm auf. Er wandte sich ab, tupfte die Augenwinkel trocken und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.
    »Wir brauchen eine Bibel«, überraschte Dr. Schönthaler mit einem plötzlichen Themenwechsel.
    »Wozu denn das?«
    »Ich möchte diesen Bibelspruch im Zusammenhang lesen. Vielleicht entdecken wir dort ja einen Hinweis auf diesen Psychopathen. Wo kriegen wir jetzt schnell eine Bibel her?«
    Tannenberg zuckte mit den Schultern. »Zu Hause haben wir eine.«
    »Du Superschlauer«, höhnte der Pathologe. »Zu Hause hab ich auch eine. Wir brauchen aber jetzt eine. Wo ist hier in der Nähe das nächste Pfarramt?«
    »Pfarramt?« Tannenberg blies die Backen auf, bevor er den Atem über seine vibrierenden Lippen ausstieß. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel überfiel ihn eine Eingebung. Vor ein paar Wochen hatte er Petra Flockerzie unabsichtlich bei einem Stoßgebet belauscht. »Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass ich nicht mehr so viel Hunger habe, bitte, bitte.« Seine korpulente Sekretärin hatte dabei die Hand auf einer Bibel abgelegt.
    »Die Flocke hat eine«, verkündete er. »Ich glaub in ihrem Schreibtisch.«
    Umgehend eilte Dr. Schönthaler hinaus in Petra Flockerzies Reich und kehrte kurz darauf mit einer Bibel zurück. »Psalm 31,16«, murmelte er, während er darin herumblätterte.
    »Die Psalmen kommen nach Hiob«, behauptete der Kriminalbeamte.
    »Woher willst du das denn wissen?«, zeigte sich sein Freund verwundert. Trotz seiner Skepsis befolgte er den Hinweis. »Ich hab’s«, jubilierte er nur Sekunden später. »Du hattest recht, die Psalmen kommen direkt nach Hiob. Da ist die Stelle, Psalm 31,16: Meine Zeit steht in deinen Händen.«
    »Aber hier steht’s genau verkehrt herum«, wandte Tannenberg ein: »Deine Zeit steht in meinen Händen.«
    Der Rechtsmediziner vergewisserte sich selbst, indem er mehrmals den Satz in der Zeitung mit dem in der Heiligen Schrift verglich. »Stimmt.« Er brummte nachdenklich auf. »Der will wahrscheinlich damit signalisieren, dass du ihm ausgeliefert bist. Denn er hat ja Emma in seinen Händen.«
    »So ein Wahnsinn!«
    »Mein Auge ist trübe geworden vor Gram, matt meine Seele und mein Leib«, zitierte Dr. Schönthaler aus der Bibel. »Denn mein Leben ist hingeschwunden in Kummer und meine Jahre in Seufzen. Meine Kraft ist verfallen durch deine Missetat. Vor all meinen Bedrängern bin ich ein Spott geworden, eine Last meinen Nachbarn und ein Schrecken meinen Bekannten. Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir. Ich bin vergessen in ihrem Herzen wie ein Toter; ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß. Denn ich höre, wie viele über mich lästern: Schrecken ist um und um! Sie halten Rat miteinander über mich und trachten danach, mir das Leben zu nehmen.«
    Der Rechtsmediziner hielt seinem Freund die Heilige Schrift unter die Nase. »Jetzt kommt’s: Meine Zeit steht in deinen Händen. Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. HERR, lass mich nicht zuschanden werden; denn ich rufe dich an. Die Gottlosen sollen zuschanden werden und hinabfahren zu den Toten und schweigen. Verstummen sollen die Lügenmäuler, die da reden wider den Gerechten frech, stolz und höhnisch …«
    Ein schrilles Klingelgeräusch zerschnitt die geradezu feierliche Bibelrezitation. Tannenberg hastete zum Telefon, riss das Mobilteil aus der Ladestation und drückte es ans Ohr. Während er schweigend zuhörte, fiel ihm vor Schreck die Kinnlade herunter. Er versuchte, das Mobilteil in die Basisstation zurückzustellen, aber es gelang ihm nicht, seine Hand zitterte zu stark. Er ließ den Hörer kraftlos auf den Schreibtisch gleiten.
    »Was ist denn los, Wolf?«
    »Oh Gott, ich muss sofort nach Hause«, kam es Tannenberg gepresst über seine farblosen Lippen. »Es ist etwas Schreckliches passiert.«
    Die Freunde rannten aus dem Gebäude und suchten nach einer Funkstreife, die sie schnell in die Beethovenstraße fahren konnte. Aber weit und breit war kein einziges Polizeiauto zu sehen.

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