Kindspech: Tannenbergs achter Fall
Bände. Sie presste die bebenden Lippen aufeinander und sog sie ein. Sekunden später perlten dicke Tränen über ihre geröteten Wangen.
Wolfram Tannenberg konnte diesen Anblick kaum ertragen. Aus purer Verzweiflung griff er zu einer Notlüge: »Weißt du, Marieke, solche Situationen hatten wir schon öfter. Die Entführung ist gescheitert, und dann versuchen diese Verbrecher noch ein bisschen mit uns zu pokern: Strafmilderung, besondere Haftbedingungen und so fort.«
»Und wenn ihr euch total verrannt habt und dieser Stalker ist überhaupt nicht der Entführer?«, brachte Max eine weitere Variante ins Spiel. »Was dann?«
Tannenberg fuhr ein Stich ins Herz. Diese Möglichkeit hatte sein von Schuldgefühlen zermartertes Hirn bislang sehr erfolgreich verdrängt. Doch nun brach die blanke Panik über ihn herein. »Quatsch, der war’s«, gab er trotzig zurück. »Der hat doch ein eindeutiges Motiv: Der will mich fertigmachen.«
»Immer du und dein Scheißjob«, brüllte Marieke mit sich überschlagender Stimme. Aus ihren stark geröteten, wässrigen Augen feuerte sie einen giftigen Blick auf Hanne ab. »Ohne den hättest du sie nie kennengelernt – und dieser Irre hätte Emma nicht entführt.«
Tannenberg hatte ein Gefühl, als ob ihm gerade sein Herz aus dem Leib gerissen wurde. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen. Er krallte sich am Türrahmen fest. »Der muss es gewesen sein. Der muss es einfach gewesen sein«, brabbelte er vor sich hin. Dann wandte er sich zur Tür und ergänzte: »Ich muss dringend ins K 1.«
Seine Beurlaubung hatte er in diesem Moment vollkommen vergessen.
Die Beethovenstraße war glühend heiß und menschenleer. Er blieb stehen, zückte sein Handy und rief Kommissar Schauß an. Der teilte ihm lapidar mit, dass Fritsche vor ein paar Minuten plötzlich sein Schweigen gebrochen und den staunenden Ermittlern ein Alibi für die Tatzeit präsentiert habe. Dieses werde gerade überprüft.
»Warum hast du mir nicht sofort Bescheid gegeben?«, blaffte er seinen Mitarbeiter an.
»Weil wir das Alibi zuerst noch überprüfen müssen.« Michael stockte kurz. »Eben kommt Sabrina, sie hat es abgecheckt«, erklärte er.
Im Hintergrund hörte Tannenberg ihre Stimme: »Er hat ein felsenfestes Alibi«, verkündete sie die ernüchternde Nachricht.
»Scheiße!«, fauchte Michael und übergab seiner Frau das Mobiltelefon.
»So ein Mist, Wolf«, fluchte Sabrina. »Aber sein Psychotherapeut hat es eben bestätigt. Als Emma im Stadtpark entführt wurde, war er bei ihm – zu einem richterlich angeordneten Anti-Aggressions-Training.«
Tannenberg fiel vor Schreck fast das Handy aus der Hand.
»Lasst euch ja nicht von ihm bluffen. Bei einem Alibi kann man ganz leicht tricksen«, klammerte er sich verzweifelt an einen dünnen Strohhalm. »Nehmt ihn euch noch mal anständig zur Brust.«
»Geht leider nicht mehr. Hollerbach hat ihn bereits nach Hause geschickt.«
»Was?«
»Ja, weil kein dringender Tatverdacht mehr gegen ihn bestünde. Und die Sache mit deiner Todesanzeige sei wohl nur ein Dummer-Jungen-Streich gewesen, den wir ihm zudem erst mal nachweisen müssten. Wer weiß, vielleicht steckt dieser Fritsche ja gar nicht dahinter. Zugegeben hat er es nämlich nicht.«
»Aber er war doch am Friedhof.«
»Na ja, das beweist aber noch lange nicht, dass er deine Todesanzeige auch tatsächlich aufgegeben hat. Er kann sie genauso gut in der Zeitung gelesen haben und wollte sich daran ergötzen, wie sein gehasster Nebenbuhler unter die Erde gebracht wird.«
12 Uhr 30
Sein eingespielter Tagesablauf war durcheinandergeraten. Das mochte er ganz und gar nicht. Er liebte die Alltagsrituale, die festen Gewohnheiten. Sie bestimmten sein Leben, verliehen ihm Stabilität. Und nötigten ihm Disziplin ab.
Was für ein genialer Plan, lobte er sich selbst, als er die Lokalzeitung von der Ablage zog. Ohne eisernen Willen, Disziplin und Kreativität überhaupt nicht durchführbar. Er hatte die Pfälzische Allgemeine Zeitung bereits am frühen Morgen intensiv durchgearbeitet: Was wusste die Presse bereits? Wie konnte er diese Informationen strategisch sinnvoll in seine weiteren Planungen einbeziehen? Musste er seine Vorgehensweise in wesentlichen Teilen verändern?
Doch die detaillierte Zeitungsanalyse hatte ihn bis auf eine Kleinigkeit äußerst zufriedengestellt. Weiterhin war alles im grünen Bereich. Auch die notwendige Anpassung, die er an diesem Morgen vornehmen musste, hatte ihn nicht
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