Kindspech: Tannenbergs achter Fall
den Krehbiels hat Ihnen Simon gnädigerweise verziehen. Aber dabei handelte es sich um ein einmaliges Entgegenkommen, als Beweis seiner Gutmütigkeit, schließlich hat Simon einem Kinderspiel den Namen gegeben. Und das verpflichtet ihn ja schon irgendwie. Simon says: Sage jetzt brav ›Danke, Simon‹.«
»Danke, Simon.«
»So ist’s recht, immer schön artig sein und Simon gehorchen. Ja, ja, Simons Großmut wird ihm irgendwann noch mal das Genick brechen«, tönte die Männerstimme. »Können wir nun endlich mit unserem kleinen Spielchen fortfahren? Sind Sie bereit?«
»Ja.«
»Gut. Simon says: Gehe sofort zum Pfaffenbrunnen. Finde eine Plastiktüte. Löse die Rätsel. Verbleibende Restzeit: eine Stunde, 54 Minuten.«
Somit hab ich bis Punkt 14 Uhr Zeit, dachte Tannenberg, während das Gespräch mit einem leisen Knacken beendet wurde. Fast zwei Stunden, um von hier aus zum Pfaffenbrunnen zu gelangen, dort eine versteckte Tüte zu suchen und wieder ein Rätsel zu lösen. Stopp! Das stimmt nicht. ›Löse die Rätsel‹, hat er gesagt. Also handelt es sich wohl um mehrere Rätsel. Was für eine bescheuerte Schnitzeljagd!
Als er sich von der Metallbank erhob, spürte er, dass das starke, hoch dosierte Schmerzmittel bereits zu wirken begonnen hatte. Vorsichtig joggte er los. Im linken Knie machte sich nur noch ein leichtes Ziehen bemerkbar, nicht vergleichbar mit den stechenden Schmerzen, die ihm noch vor ein paar Minuten fast die Kehle zugeschnürt hatten.
Aufgrund seiner sportlichen Vergangenheit war ihm selbstverständlich klar, dass er so schnell wie möglich einen gleichmäßigen körperlichen Belastungsrhythmus finden musste. Nur dann würde er in der Lage sein, die vorhandenen Energiereserven optimal auszuschöpfen. Dazu gehörte auch der sparsame Umgang mit dem vorhandenen Trinkwasser. Das Haushalten mit den eigenen Kräften und Ressourcen war die zwingende Voraussetzung, um an diesem makaberen Todesspiel so lange wie nur irgend möglich teilnehmen zu können. Denn ein Ende war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar.
Aber es gab keine Alternative: Tannenberg musste auch weiterhin gehorchen und versuchen, die Rätsel zu lösen und die vorgegebenen Zeitlimits zu unterbieten, wollte er nicht die angedrohte Bestrafungsaktion des Entführers provozieren. Und dass mit diesem skrupellosen Erpresser nicht zu spaßen war, darin bestand für ihn mittlerweile nicht mehr der geringste Zweifel.
Dieser Knut ist genauso ein Psychopath wie sein durchgeknallter Zwillingsbruder Lars, sagte Tannenberg zu sich selbst, als er von der Kärcherstraße kommend im Laufschritt die Eisenbahnunterführung durchquerte. Vor dem Anstieg zum Lämmchesberg schnaufte er noch ein paarmal kräftig durch, dann ging er die beschwerliche Passage hinauf in Richtung des TSG-Sportgeländes in gleichmäßigem Tempo an.
Während er sich wie bei einer Meditation auf seinen Atemrhythmus konzentrierte, musste er plötzlich an einen Skiurlaub vor gut 30 Jahren denken: Er verbrachte damals mit einer Gruppe von Germanistikstudenten, zu denen auch sein Bruder Heiner gehörte, eine Woche in Saas Grund. Starker Schneefall hatte innerhalb von nur 36 Stunden für zwei Meter Neuschnee gesorgt. Da die Straße nach Saas Fee daraufhin wegen akuter Lawinengefahr gesperrt werden musste, quälte sich Tannenberg vier Tage hintereinander mit Langlaufskiern hinauf nach Saas Fee und besorgte frische Brötchen.
Plötzlich drängte sich ein anderer Gedanke mit Vehemenz in diese abschweifende Jugenderinnerung: Wieso hat dieser Irre vorhin eigentlich in der Mehrzahl gesprochen?, fragte er sich. Die Worte des Entführers klangen ihm noch immer im Ohr: »Und denken Sie stets daran, dass wir Sie beobachten.« Was meint der damit? Dass mehrere Täter hinter diesem Wahnsinn stecken? Das ist doch Quatsch, das glaub ich nicht. Der muss sich eben versprochen haben. Oder er flunkert mir hier einen vor und will mich damit absichtlich verwirren. Vielleicht gehört das alles zu seinem Plan.
Andererseits: Wie konnte er gleichzeitig beobachten, dass ich zu den Krehbiels in die Villa rein bin und fast zum selben Zeitpunkt ein Foto von Emma schießen und es mir aufs Handy schicken?
Diese Überlegungen brachten ihn völlig aus dem Atemrhythmus, Seitenstechen setzte ein. Er musste stehen bleiben.
Dafür gibt es nur eine einzige schlüssige Erklärung, schoss es ihm durch den Kopf: Der Kerl befindet sich in einem Haus direkt am Stadtpark. Nur so konnte er diese beiden Dinge
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