Kindspech: Tannenbergs achter Fall
gleichzeitig tun. Ich muss zurück und Emma suchen. Ich muss die Kollegen verständigen. Wir müssen nacheinander alle Häuser durchkämmen. Er rannte die Straße hinunter. Doch plötzlich bremste er ab, kam zum Stillstand und stemmte keuchend die Hände auf die Hüftknochen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er und verzog dabei sein Gesicht zu einer furchterregenden Grimasse. Eine ältere Frau, die nur wenige Meter von ihm entfernt im Schatten die Treppe putzte, fragte, ob sie ihm helfen könne.
»Mir kann niemand helfen«, gab er trotzig zurück. Er zog die Nase hoch und joggte wieder in entgegengesetzter Richtung los.
Wenn ich das jetzt tue, begehe ich einen gravierenden Regelverstoß – und das wäre Emmas Todesurteil, schoss es ihm durch den Kopf. Ich muss weitermachen. Vielleicht spielt die Zeit ja für mich. Obwohl es gegenwärtig nicht gerade danach aussieht.
Er hielt sich seinen Arm vor die Nase. Seine Uhr zeigte 12 Uhr 21.
Trotz des Seitenstechens bewältigte er den strapaziösen Anstieg ohne eine weitere Pause. Erst oben am vorläufig höchsten Punkt seines unfreiwilligen Stadtlaufs legte er vor den Toren der Pestalozzi-Schule eine kleine Rast ein. Er setzte sich auf die Bank an der Bushaltestelle, wo er ein paar Schlucke Wasser trank. Die meisten der wartenden Studenten taxierten ihn wie einen Außerirdischen. Aber nicht etwa wegen seiner körperlichen Betätigung in dieser Bullenhitze, sondern vielmehr angesichts seines unorthodoxen Jogging-Outfits, das aus Sakko, Jeans und schwarzen Lederschuhen bestand.
Hier im Umfeld der Kaiserslauterer Universität war man zwar durchaus seltsame sportliche Aktivitäten gewöhnt, wie zum Beispiel der jährlich stattfindende Bierkastenlauf hinauf zum Humbergturm. Zudem liefen auf dem Unigelände des Öfteren skurrile Gestalten herum, die selbst im kältesten Winter demonstrativ barfuß oder in kurzen Lederhosen über den Campus stolzierten. Aber ein 50-jähriger Hochsommer-Jogger in dieser Montur, das hatte es hier bislang wirklich noch nicht gegeben.
Tannenberg bemerkte diese neugierigen Blicke nicht. Seine Augen blieben auf dem dürren Sekundenzeiger haften, der unerbittlich in ein und dieselbe Richtung lief: 12 Uhr 29. Noch eineinhalb Stunden. Mit geschlossenen Augen schöpfte er tief Luft, dann drückte er sich in die Höhe und joggte weiter. Hinter der Sporthalle des Heinrich-Heine-Gymnasiums ging es in den südlichen Stadtwald. Da er zweimal einen falschen Weg benutzte, musste er am Ende querfeldein laufen und benötigte für die Überwindung der circa hundert Höhenmeter eine knappe halbe Stunde.
Als er völlig ausgepumpt am Pfaffenbrunnen eintraf, hatte er das Gefühl, dass sein Kopf gleich bersten würde. Unter den Schläfen pochte der Schmerz, die stark gerötete Gesichtshaut brannte wie Feuer. Er nahm zwei weitere Diclofenac-Tabletten ein, spülte sie mit großen Schlucken die ausgetrocknete Kehle hinunter. Die erste Trinkflasche war leer.
›Brunnen‹, leuchtete auf seiner inneren Leinwand auf. Doch ein flüchtiger Blick auf die aus sieben Buntsandsteinfindlingen zusammengesetzte Brunnenanlage genügte: Die Brunnenkammer war ausgetrocknet, die Kaskaden hatten seit langer Zeit keinen einzigen Wassertropfen mehr gesehen. Kein Wunder, denn in der Pfalz herrschte seit mehreren Wochen eine ungewöhnlich lange Dürreperiode. Diese mörderische Hitze war auch der Grund dafür, weshalb dieses beliebte Ausflugsziel kaum mehr angelaufen wurde.
Verflucht, genau hier auf diesem Felsbrocken hat vor fast genau sechs Jahren dieser ganze Wahnsinn angefangen, sinnierte Tannenberg.
Vor seinem geistigen Auge tauchte ein gespenstisches Szenario auf: Lars Mattissen hatte sein erstes Opfer auf dem obersten der sieben Sandsteinfindlinge wie auf einem Altar aufgebahrt. Der weibliche Leichnam war bis auf die fehlenden Schuhe vollständig bekleidet gewesen. Der mehrfache Frauenmörder hatte alle seine Opfer den Kriminalbeamten in der gleichen Art und Weise präsentiert: mit Waldschmuck dekoriert und mit einem in die fachmännisch geöffnete Kehle hineingesteckten Speisepilz. Darüber hinaus hatte er Tannenberg ein makaberes Katz-und-Maus-Spiel aufgezwungen: Damals musste er unter großem Zeitdruck Schachrätsel lösen. Doch am Ende hatte auch dies Lars Mattissens letztem Opfer nicht mehr das Leben retten können.
Warum hab ich bloß damals nicht abgelehnt, als Eberle mich um die Leitung des K 1 gebeten hat? Ich Idiot!, beschimpfte er sich selbst. Dann wäre es
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