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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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galt es zu respektieren. Manchmal musste man sie aber auch überwinden. Das war jetzt so ein Moment. Ich holte mir einen Stuhl, den ich vor den Schrank stellte, in gebührendem Abstand zu dem Gitter, hinter dem ich ihn mehr ahnte als sah. Es war gespenstisch.
    Ich konnte jetzt das Spiel der Tierstimmen mit ihm spielen. Das Gründeln der Enten. Das hatten wir schon. Hin und wieder hatte ich ein Jucken im Innenohr. Ich grunzte gegen das Jucken an. Das war wie das Grunzen von Schweinchen im Koben. Es half. Ich konnte das Grunzen lang gedehnt oder im Stakkato ausführen. Die Sau auf Trüffelsuche. Das hing ganz vom Juckreiz ab. Ich konnte darüber hinaus gackern wie Hühner beim Picken oder beim Ausbrüten auf dem Ei. Das klang fast schon anheimelnd und gemütlich. Einen Eselsschrei bekam ich auch noch hin. Damit erschöpften sich aber meine Künste als Imitator von Tierstimmen. Ich gackerte ein bisschen und schlug mit den Armen, als hätte ich Flügel. Ich lauschte. Nichts. Ich gackerte wieder, Flügel schlagend, und hüpfte mehrmals um den Stuhl herum, auf den ich mich schließlich setzte, um gackernd das imaginäre Ei auszubrüten. Für den Anfang war das nicht schlecht. Wieder keine Reaktion. Jetzt grunzte ich wie ein Ferkelchen in allen mir möglichen Variationen. Es war zu leise für meinen Geschmack. Ich eilte in die Küche und fand einen Putzeimer aus Zinkblech. In den grunzte ich. Der Eimer war der ideale Verstärker. Das Grunzen klang nur etwas hohl, als säße das Schwein in einem Verlies. Es fehlte nur noch das Kettenrasseln. Es begann, mir richtig Spaß zu machen. Zuerst war ich mir etwas albern vorgekommen. Ich unterbrach mein Spiel und hörte hin zum Schrank. Mein stummer Zuhörer gab keinen Piep von sich. Ich legte mich ins Zeug, hielt den Kopf weit nach hinten in den Nacken gebogen und ein irrer Eselsschrei entrang sich meiner Brust. »Iiii-aaaa, Iiii-aaaa« schallte es. Das war schon richtig gut! Ich eilte wieder in die Küche und suchte vier Esslöffel. Ich fand schöne, dicke, silberne in einem Besteckkasten. Sie waren ideal geeignet, um mit ihnen das Getrappel von galoppierenden Hufen nachzuahmen. Ich nahm die Löffel paarweise wie chinesische Essstäbchen links und rechts in die Hand, Löffelrücken an Löffelrücken, und schlug mir mit den Löffeln paarweise abwechselnd auf die Knie. Dazu erklangen die Eselsschreie. Ich war echt in Form, es klang furios, eine Eselsherde in vollem Galopp. Nach dieser Darbietung war ich ermattet. Ich war am Ende meines Tierstimmenlateins. Zu mehr war ich nicht fähig. Hinter dem Gitter des Beichtstuhls saß ungerührt Philip.
    In meiner Wohnung gab es keine Schränke. Meine Wäsche, Hemden, Pullover und Socken lagen in Körben. Hosen und Anzüge hingen an Kleiderständern. Schränke waren für mich eine Tabuzone. Verbranntes Land, das ich nie wieder betreten wollte. Terra incognita. Im Hirn ausgemerzt. Ich fürchtete, dass, wenn ich diese Schrankwelt vor mir betreten würde, mit diesem seltsamen Jungen darin, unter der Aufsicht einer bizarren Mutter, ich womöglich nicht wieder von dieser Expedition zurückkehren würde. Um keinen Preis wollte ich diesen Schrank betreten. Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen und begann zu erzählen. »Ich war selbst ein Schrankhocker. Viele Jahre, im Haus meiner Mutter. Einen Vater gab es nicht. Der Schrank war meine Welt. Die andere Welt sah ich durch die Schlüssellöcher des Schrankes. Die andere Welt existierte in den Ausschnitten und Fragmenten, die ich durch die schmalen Schlüssellöcher sehen konnte. Ich nannte dieses Schlüssellochgucken mein Heimkino. Es liefen viele Filme. Böse Filme, in denen meine Mutter immer die Hauptperson war. Eines Tages konnte ich den Schrank verlassen. Ich bin abgehauen nach Berlin. Da war ich 18 Jahre alt.« Ich hielt inne. Etwas hinter dem Gitter hatte sich bewegt. Philip hatte mir für einen kurzen Moment sein Gesicht zugewandt. Es war eine fast ruckartige Bewegung. Ich hatte ihn erreicht. Er zeigte eine Reaktion. Ich fuhr mit meinem Bericht fort. »Kurz nachdem ich in Berlin war, erfuhr ich, dass meine Mutter tot war. Sie ist in der Badewanne ertränkt worden. Ich hielt mich für den Mörder, ohne dass ich mich auch nur im Geringsten an meine Tat erinnern konnte. Sie ist, wenn überhaupt je ich es gewesen sein sollte, bis heute vollkommen aus meinem Gedächtnis gelöscht. Nur manchmal rumort es in mir, als flösse tief unterirdisch ein breiter Mahlstrom mitten durch mich hindurch. Eine große

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