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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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auf der Frau Maibaum unter ihrem toten Mann, an einem Ast aufgehängt, zu sehen war. Auch diese beiden Zeichnungen bildeten eine Art Totentanz von Gehängten.
    Auf der ersten Zeichnung war der Tote an einem ziseliert dargestellten Kronleuchter aufgeknüpft. Es war ein alter, beleibter Mann, mit grotesk weit gespreizten Beinen. Die Augen quollen aus den Augenhöhlen. Die Zunge hing aus dem aufgerissenen Mund. Der Tote war im Smoking, die Hose war aufgeknöpft, man sah sein Geschlecht, nur halb verdeckt durch die gerippte Unterhose. Seine linke Hand umkrampfte ein Sektglas. Der Kopf war da, wo die Schlinge um den Hals gelegt war, scharf abgeknickt. Der Knoten der Schlinge war groß und wirkte professionell. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, aber gut erkennbar. Unter dem Toten stand eine Frau in einem Charlestonkleid. Sie war attraktiv und zog aus einem dicken Geldbündel, das sie in der Hand hielt, einen Schein, den sie gegen das Licht des Kronleuchters hielt, als prüfte sie die Echtheit der Geldnote. Aus ihren Mundwinkeln hing eine lange, brennende Zigarettenspitze mit ganz feinen Schnitzereien. Vermutlich war es eine Spitze aus Elfenbein. Im Hintergrund sah man die Umrisse von Tanzenden. Es sah aus, als hätte man dem Toten mitten auf einer Party die Schlinge um den Hals gelegt und ihn am Kronleuchter ins Jenseits gehievt. Die Frau hatte eine Bubifrisur der 20er-Jahre und wirkte ausgesprochen androgyn. Der Kronleuchter erinnerte mich fatal an den Kronleuchter, der im Ballsaal der Frau Stadl von der Decke hing. Ich konnte mich nicht exakt daran erinnern, aber er war es. Am liebsten wäre ich auf der Stelle zu Martha gefahren. Wenn sie den Kronleuchter gezeichnet hatte, musste sie in der Wohnung der Stadl gewesen sein. Erfunden hatte sie dieses Gerät, von dem ein beleibter Bonvivant am Strick baumelte, nicht. Ich betrachtete die zweite Zeichnung. Sie zeigte wieder einen Gehängten. Es war ein sehr langer, spindeldürrer, nackter Mann, dessen Rippen scharf hervorstachen, als hätte der Mann in einem letzten Versuch, nicht zu ersticken, sich mit Luft vollgepumpt. Das Entweichen der Luft wurde durch die Schlinge, die den Hals zuzog, verhindert und sie drohte, den Brustkasten zu sprengen. Der Körper des Mannes war gespickt mit Kanülen und Spritzen. Der Strick, an dem er hing, ging über den Bildrand hinaus und führte womöglich direkt in den Himmel. Die Füße des Mannes berührten fast den Boden und waren nach unten gestreckt, als suchten sie einen Halt, der ihnen entzogen worden war. Auch neben diesem Toten stand eine Frau, die, im Gegensatz zu dem Gehängten, sehr dick war, mit übermäßig geschminktem Mund. Sie trug ein kurzes Röckchen, das unter der Brust mit einer Schleife zusammengefasst war. Sie stopfte sich Geldscheine ins Dekolleté. Einige Scheine flatterten zu Boden. Die Frau hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Miss Piggy aus Walt Disneys Comics. Beide Zeichnungen waren mit › M ‹ signiert. Beide Zeichnungen hatten eine Überschrift: ›ZERSETZUNG‹.
    Es war spät in der Nacht, als ich diese Zeichnungen betrachtete. Jetzt auf der Stelle zu Martha zu fahren, um sie zur Rede zu stellen, hatte wenig Sinn, obwohl mir ganz danach war. Ich versuchte, sie am Telefon zu erreichen. Ich musste Dampf ablassen. Jetzt, auf der Stelle, unbedingt und unaufschiebbar. Es läutete lange, bis sie schließlich abhob.
    »Hier Fritz!«
    »Spinnst du?«
    »Die Zeichnungen!«
    »Was für Zeichnungen? Du spinnst doch! Mitten in der Nacht.« Ich wollte hinzufügen, ich komme morgen, aber sie legte auf. Ich hatte noch Lust auf ein Bier. Die Kneipen am Stutti waren längst alle zu. Der Savigny Platz war mir zu weit. Ich beschloss, ins Bett zu gehen, obwohl ich hellwach war. Vielleicht lief ja noch etwas im Fernsehen. Ich ging ins Schlafzimmer und legte mich angezogen auf das Bett, dessen Rahmen aus poliertem Stahl gebaut war, eine für meine Verhältnisse lausig teure Sonderanfertigung. An den Rahmen hatte ich eine uralte Bürolampe geschraubt. Diese Lampe hatte Charakter. Ich knipste sie an. Dabei berührte ich den Stahlrahmen. Ein Schlag durchzuckte mich. Ich stand unter Strom. Ich konnte die Hand vom Rahmen wegziehen. Nur die Matratze isolierte mich einigermaßen. Ich konnte mich vom Bett wälzen. Ich lag wie betäubt für einen Moment auf dem Boden, rappelte mich auf und stürzte zum Sicherungskasten. Ich drückte die entsprechende Sicherung nieder. Die Bürolampe erlosch. Ich ging zurück zu meinem Bett und zog den

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