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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Wut packt mich. Ich möchte die ganze Welt am liebsten zertrümmern. Dann fürchte ich mich vor mir selber und will zurück in den Schrank, in dem ich mich vor allem Bösen, das mich überwältigen könnte, geschützt fühlte. Der Schrank war meine Heimstatt. Da war ich nicht auf der Welt, auf der meine Mutter ihr Unwesen trieb. Im Schrank fühlte ich mich wie nie geboren. Ich war nie aus dem Mutterleib herausgekrochen. Sonst wäre die Geburt bereits der Tod gewesen. Der Schrank gewährte mir Aufschub. Der Tod kann auch eine Frau sein.« Ich hielt inne, dann sagte ich noch, aus einem Impuls heraus: »Euer Nachbar, Herr Frank, ein sympathischer Mensch, erzählte mir von den Partys, die hier in der Wohnung gefeiert wurden, auch davon, dass deine Mutter nicht immer nett zu dir war, und von Frau Körner, die jetzt tot ist, erzählte er, wahrscheinlich ermordet, wie du ja sicher weißt.«
    Ein leises Knarren unterbrach meinen Redefluss. Es war mir recht, denn dieses Eintauchen in meine Vergangenheit war anstrengend. Es war wie das Knacken von schwer bewachten Tresoren. Die Türe des Beichtstuhles, seitlich am Krustenschrank angebracht, öffnete sich. Sie knarrte und die Türangeln quietschten. Zuerst erschienen die wilden Rastahaare, und ganz langsam, wie ein lauerndes Tier, das, mit der Nase schnüffelnd, die Umgebung überprüft, erschien die Pitbull-Maske, die sich mir langsam zudrehte. Der Kopf wirkte wie abgeschnitten durch die Türkante. Er schwebte gute zwei Meter über dem Parkettboden. Er schaute mir direkt in die Augen, dann in verschiedene Richtungen, immer noch schnüffelnd die Witterung aufnehmend. Zufriedengestellt, hüpfte er aus dem Schrank, landete auf allen vieren, und hüpfte, die Hände zu Fäusten geballt, auf den Faustballen und den Füßen durch das große Zimmer. Dabei stieß er aufgeregt äffische Laute aus. Er hüpfte aus dem Zimmer ins Schlafzimmer auf das große Bett, auf dem er wild herumsprang und dabei laut schrie, wie Schimpansen schreien, wenn sie aufgeregt sind. Vom Bett hüpfte er in das Wohnzimmer. Dort drehte er sich im Kreise um die eigene Achse, trommelte dabei mit den Fäusten auf den Boden und stieß in rascher Abfolge hohe, schrille Laute aus. Dann schnappte er sich den Schürhaken und stürmte auf das Aquarium zu, in dem die Fische ruhig ihre Bahnen zogen. Ich dachte, jetzt passiert’s, jetzt zertrümmert er das Aquarium. Er sprang aber nur, den Schürhaken schwingend, vor dem Aquarium in wildem Gehopse auf und ab, als stünde er auf einem Trampolin, schlug zwischendurch Purzelbäume, sprang einen Salto rückwärts, oder rollte über die Schulter ab. Es war überaus gelenkig und reif fürs Varieté, was er in dem blauen Licht des Aquariums veranstaltete. Das Licht warf zuckende Schatten des äffischen Turners auf die Zimmerwände. Es war ein skurriles Schauspiel, dem ich beiwohnte, dessen Bedeutung ich aber nicht im Geringsten verstand.
    Jetzt schleuderte er den Schürhaken von sich und sprang, wieder auf allen vieren, wie ein Sausewind in die Küche, wo hell das Licht brannte. Er öffnete den Kühlschrank, in dem eine supergroße Plastiktube mit Ketchup stand. Die schnappte er sich. Jetzt ging es erst richtig los. Unter wildem Grunzen drehte er mit den Zähnen den Schraubverschluss von der Tube. Es ging ihm nicht schnell genug, das Grunzen wurde immer wütender, endlich war die Tube geöffnet, und er spritzte den Ketchup auf die Bodenfliesen, die Wandfliesen, über den Kühlschrank, den Herd, das große Arbeitsbrett, auf dem ein massiver Messerblock mit langen Messern stand. Als die Tube leer war, zog er eines der Messer aus dem Block und stach damit, unter wildem Geschrei, auf einen imaginären Gegner ein, der, von den unzähligen Stichen getroffen, taumelnd zu Boden sank. Das Opfer bäumte sich ein letztes Mal auf, röchelte entsetzlich, streckte alle viere von sich. War tot. Das Geschrei erstarb. Der Junge atmete jetzt heftig. Ganz offensichtlich demonstrierte er einen Tötungsakt mit einem Messer. Anders konnte ich mir das Spektakel nicht erklären. Schwer atmend, mit dem blutigen Messer in der Hand, stand der Täter über das Opfer gebeugt und berührte es mit einer Fingerspitze. Das machte er mehrmals. Das Opfer rührte sich nicht mehr. Die Tat war vollbracht. Er richtete sich wieder auf, warf das Messer auf den gefliesten Boden, es klirrte scharf, und verließ die Küche, ohne mich anzusehen. Es herrschte Stille. Nur das ganz leise Summen einer Neonröhre war zu hören.

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