Kindswut
eher ein ernsthafter Mensch, kein geschwätziger, musste Philip völlig verstört sein. Ich war hellwach und beschloss, die vier Stockwerke hochzusteigen, den Fahrstuhl benutzte ich nicht. Ich brauchte die Bewegung, um meine Gedanken zu sortieren. Ich wusste nicht, was ich in der Wohnung meiner Feindin, so musste ich Frau Stadl inzwischen bezeichnen, wollte oder suchte. Ich wollte Philip beistehen. Er brauchte mich. Die Situation, in der ich mich befand, war bizarr. Aus Gefälligkeiten wurden Bedrohlichkeiten. Von Martha und Ludwig fühlte ich mich hereingelegt. Sie hatten mich erst in den ganzen Schlamassel hineingezogen. Dabei war ich auf eine Tretmine gestoßen. Die Stadl engagierte mich als Hüter ihres Sohnes und sperrte mich in den Kofferraum eines Autos ein, das möglicherweise noch von der durchgeknallten Frau Körner organisiert worden war, die mittlerweile aber das Zeitliche gesegnet hatte. › Kein Selbstmord, nie! ‹ , schwor Willy. Wenn es Mord war, fiel mir als Täterin die Frau Stadl ein. Ich hatte nicht den geringsten Hinweis, dass sie es war. Sie war irre. Nicht alle Irren sind automatisch Mörder. Ich wunderte mich immer wieder, wie viele gestörte Menschen frei herumliefen. › Du bist doch selbst ein Grenzgänger. ‹ Marias Sprüche konnten lästig sein.
Ich war im vierten Stock angekommen und etwas außer Puste. Ich stand wieder vor der mittleren Türe, die ich versehentlich öffnen wollte. Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Man konnte ja nie wissen. Wie mit Zauberhand ging die Türe auf und der Kerl stand da, der mir den Kinnhaken verpasst hatte. Dieses Mal war ich nüchtern und er würde mich nicht wieder unvorbereitet treffen.
»Tut mir leid mit gestern Abend. Kommen Sie rein.« Es war ein ganz freundlicher Mensch, der jetzt vor mir stand. Ich folgte seiner Einladung. »Nehmen Sie Platz.« Wir waren im Wohnzimmer, der Fernseher lief. Neben dem Ledersessel, in dem ich mich niederließ, lag auf einem Glastischchen der ›Tagesspiegel ‹ mit dem Foto von der toten Frau Körner. Die Wohnung war, soweit ich das auf den ersten Blick sehen konnte, sparsam, aber sehr geschmackvoll eingerichtet. An den Wänden standen Bücherregale. Ein großer Flügel dominierte den Raum. »Ich habe einen wunderbaren Rotwein. Einen Pauillac.«
»Genau meine Marke.« Er öffnete die Flasche und stellte zwei Rotweinkelche auf das Glastischchen. Ich nahm den ›Tagesspiegel‹. »Kannten Sie die Frau Körner?«
»Flüchtig.« Er schenkte sich einen Schluck Rotwein ein, schwenkte ihn und roch. »Alles bestens.« Er füllte mein Glas und goss dann sich ein. »Auf gute Nachbarschaft!« Wir prosteten uns zu. Der Pauillac war spitze. 94er-Jahrgang, einer der besten. Ich erzählte ihm mit knappen Sätzen, was mich mit Frau Stadl verband. Dass ich ihren Sohn hüten sollte, dass mir der Junge sehr problematisch erschien. Die Mutter nicht weniger. Alles andere ließ ich weg. »Frau Körner kenne ich nur aus der Erzählung einer Bekannten.« Er hatte sich in einen Ledersessel mir gegenüber gesetzt und hörte mir aufmerksam zu. Er war ein athletischer, großer Mann Mitte 40 mit einer Halbglatze. Die Haare waren sehr kurz geschnitten. Er war braun gebrannt. Eine ausgesprochen sportliche Erscheinung mit einer warmen Ausstrahlung. Es wunderte mich, warum er mir diesen Kinnhaken versetzt hatte. Es passte nicht zu seinem Erscheinungsbild. »Was hat Sie denn gestern Abend so in Rage versetzt?«
Er kniff ein Auge zusammen und schielte in sein Weinglas. »Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe diese Wohnung hier vor drei Jahren gekauft. Ich bin sehr viel unterwegs. Weltweit. Ich baue Seehäfen. Bei dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels, bedingt durch den Klimawandel, ist die Auftragslage gut. Viele Häfen werden verschwinden, wenn sie nicht umgebaut werden. Neue werden zwingend hinzukommen. Frau Stadl war zunächst ganz entzückend, bis mir ihre Avancen lästig wurden. Ich wies sie ab. Das erzürnte sie. Sie schikanierte mich, wo sie nur konnte. Am lästigsten sind ihre ständigen Männerbesuche. Immer Einzelbesuche. Manchmal Pärchen. Ständig läutete es bei mir. Typen, die sich in der Türe geirrt hatten. Wie Sie. Mir war schnell klar, dass das keine üblichen Partys waren, die da abgehalten wurden. Mir tat der Junge leid. Für ihn eine unerträgliche Situation. Ich stellte Frau Stadl zur Rede. Sie rastete aus. Beschimpfte mich. Ich ging zur Polizei, zum Jugendamt, erstattete Anzeige. Es war nichts zu machen.
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