Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
Der Junge ist in guter Obhut, hieß es dort. Ihm fehle nichts. Er habe die notwendige ärztliche Betreuung. Frau Stadl habe einen guten Leumund. Sie lebe in glänzenden wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie habe ein Kindermädchen engagiert. Eben diese Frau Körner, die jetzt tot ist. So argumentierte das Jugendamt. Nichts zu machen. Ich wurde von Frau Stadl angezeigt wegen übler Nachrede. Ich wurde verurteilt. Auf Unterlassung. Oder ich muss zahlen. Eine sechsstellige Summe. Jemand vom Jugendamt hatte mich verpetzt. Eine Frau Näher. Für die sind Männer immer Täter. Frauen Opfer. Eine Stereotype hart wie Beton. Sie hat gegen mich ausgesagt. Als Mann haben Sie da keine Chance. Der Junge auch nicht. Er darf kein Opfer sein. Irgendwann ist er dann selbst Täter. Wenn er ausrastet. Welche Chance hatte er denn, sich Luft zu machen? Alles nur eine Frage der Zeit, bis er explodiert. Dann erhebt sich wüstes Geschrei.« Wir prosteten uns zu. »Ich werde die Wohnung wieder verkaufen. Ich ertrage das alles nicht. Manchmal höre ich den Jungen auf der Terrasse weinen. Die Mutter staucht ihn zusammen. ›Knie nieder! Du darfst mich nie verlassen! Immer lachen, mein Junge, immer nur lachen, egal, was passiert, lache, das hält uns aufrecht. Lache! Lache! ‹ , tobte sie. Manchmal trällerte sie ›lache, Bajazzo, lache ‹ . Ich würde am liebsten die Türe eintreten und sie vom Balkon werfen.«
    Ich dachte an die fletschende Pitbull-Maske im Gesicht von Philip. Ein sich selbst verordnetes Dauerfletschen, das er sich aufgemalt hatte, um nie der gehorsame Sohn zu sein, fantasierte ich. Wir hatten uns noch nicht vorgestellt. »Übrigens, ich heiße Fritz Neuhaus.«
    »Natürlich. Frank Götz.« Wir standen auf und schüttelten uns förmlich die Hände. Jeder machte einen Diener. Es war sehr komisch und wir lachten. Dann setzten wir uns wieder. »Vor ein paar Tagen hat es zwischen den beiden furchtbar gekracht. Das hätte ich der Körner nicht zugetraut. Sie wirkte immer leicht abwesend und zugedröhnt. In sich gekehrt. Attraktiv und sexy war sie ja. Sie brüllte wie eine Sau kurz vor der Schlachtung. Völlig hysterisch und außer sich. Es ging um Geld. ›Du hast mich betrogen, du hast mich betrogen ‹ , schrie sie. Immer wieder. Es nahm kein Ende. Ich schellte bei ihnen. Sie machten nicht auf. Ich bin ein paar Mal um den Block gelaufen. Als ich zurückkam, war der Spuk vorbei. Es herrschte Grabesstille.« Er verstummte. Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde. Er hielt mit beiden Händen das Weinglas und schaute hinein. Er hob den Kopf und sah mich an. »Ein paar Meter von hier, getrennt nur durch eine Wand, tobt der Wahnsinn. Ich bin Zeuge. Wie hält der Junge das aus? Keiner will es wissen. Was würden Sie tun?«
    Ich konnte die Frage nicht beantworten. Meine Mutter wurde in der Badewanne ertrunken aufgefunden, kurz nachdem ich nach Berlin geflohen war. Ich war 18. Es gab für mich Gründe zur Annahme, dass ich der Täter war. Das war mein Geheimnis. Ich hatte es für immer vor mir und der Welt weggesperrt. Es wurde nie gegen mich ermittelt. Ich war unverdächtig. Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich wusste nicht, ob ich es gewesen bin. Frank und ich leerten die Flasche und ich verabschiedete mich. Er entschuldigte sich vielmals für seinen Aussetzer. Ich fragte ihn noch, ob er die Stadl für die Mörderin der Frau Körner hielt.
    »Ich traue ihr alles zu.« Diesen Satz hatte ich an diesem Abend schon einmal von Maria gehört. Ich wollte mich noch erkundigen, warum es an den Türen keine Namensschilder gab. Ich hatte es vergessen. Ich überlegte, ob ich in die Wohnung gehen sollte, um nach Philip zu sehen. Ich zögerte. Ich kam mir vor wie ein Eindringling in eine ganz andere Welt. Ich tat es dennoch. Ich machte in der ganzen Wohnung helles Licht, als fürchtete ich mich vor Gespenstern. Ich suchte ihn überall. Er war nirgends. Auch nicht auf der Terrasse. Aber das Akkordeon stand neben seinem Militärbett. Ich vermutete daher, dass er in der Wohnung war. Ich fand ihn in dem Beichtstuhl. Ich konnte ihn durch das Gitter sehen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Dieser junge Mensch saß ganz stumm hinter dem Gitter im Schrank, im Beichtstuhl. Ich fühlte mich entsetzlich. Sollte ich die Türe öffnen? Er hatte den robusten Schrank, eine massive Grenze, zwischen sich, mich, die ganze Welt gesetzt. Eine Festung, hinter der er sich verschanzte. In sie konnte ich nicht ohne Weiteres und unbefugt eindringen. Grenzen

Weitere Kostenlose Bücher