Kindswut
Oder des Kühlschranks. Ich konnte das Geräusch nicht orten, aber es war überaus beruhigend in seinem steten Gleichmaß. Es sah wüst aus in der Küche. Es roch nach Ketchup mit einer Curryduftnote. Ich ging zu dem Messerblock, in dem noch sieben Messer steckten. Ich zog ein Messer nach dem anderen heraus und überprüfte die Klingen. Ich tat es ohne Absicht, es war ein Abreagieren, das Gesehene hatte mich beeindruckt, ich wollte vielleicht das Tatmesser durch die vielen Messer neutralisieren, ich wusste es nicht, ich bemerkte es kaum, wie ich mit einer gewissen Automatik die glänzenden Schneidewerkzeuge aus dem Schlitz des Holzblockes zog. Auf der Klinge des vorletzten Messers, es war ein sehr scharfes Tranchiermesser, waren mehrere kleine, aber gut sichtbare rote Flecken. Sie sahen aus wie Blutflecken. Ich spiegelte mich beim Betrachten der kleinen, roten Punkte auf der Messerklinge. Es war Blut, es war kein Ketchup. Davon war ich überzeugt. Ich atmete heftig. Ich war schockiert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Jetzt hing ich voll drin im Schlamassel. Ich nahm von einem Regal ein Spültuch, in das ich das Messer einwickelte, und steckte es in meine Jackentasche.
Der Junge hatte mir einen Tötungsakt vorgespielt, der in der Küche stattgefunden hatte. Das Messer in meiner Jackentasche war die Tatwaffe. Davon war ich überzeugt, als ich die Wohnung verließ. Vorher hatte ich mich in der Wohnung noch nach dem Jungen umgeschaut. Er saß auf seinem Bett auf der Terrasse und hatte sich das Akkordeon umgeschnallt.
»Wenn ich mehr weiß, sage ich dir Bescheid.« Es war eine idiotische Bemerkung von mir. Aus reiner Verlegenheit geboren. Er wusste alles, ich wusste nichts. Er kannte den Mörder, die Mörderin, und das Opfer. Ich hatte keinen blassen Dunst. Eigentlich wollte ich sagen, du kannst mir vertrauen. Ich hatte überlegt, ob ich die Nacht über in der Wohnung bei ihm bleiben sollte. Ich hatte mich dagegen entschieden. Er hatte mir einen mörderischen Vorgang vorgespielt. Vielleicht hoffte er in mir auf einen Zeugen, der ihm eine Last abnahm.
Er hatte zu spielen begonnen, als ich ging. Es waren die klagenden Laute eines Tangos. Wie konnte ich ihn zum Sprechen bringen? Ich trottete über den Hinterhof in meine Wohnung. Das in das Tuch gewickelte Messer schlug beim Laufen gegen meinen Oberschenkel. Es war fast Vollmond, er leuchtete hinter gezackten Wolken, die ein stürmischer Wind vor sich hertrieb. Die Bäume rauschten. Es fehlte nur noch Maria, die in ihrem weiten Mantel vorbeiflatterte und mich mit ihrem weißen Gebiss anbleckte. Ich versuchte mir einzureden, dass die Darbietung des Jungen ein bloßes Schauerstück war, seiner bizarren, kranken Fantasie entsprungen. Doch es war kein Schauerstück, genauso wenig wie die Erzählungen von Frank Götz erfunden waren. Frau Körner, Kindermädchen und Puffmutter in einem, lebte nicht mehr, die Blutflecken auf der Klinge waren kein Ketchup und Frau Stadl inszenierte einen Hexensabbat, in dem ich wie in einem Topf auf offenem Feuer zu Fleischsuppe verrührt wurde. Ich agierte in einem Schauerstück. Es war gruselig und höchst lebendig.
Die Überraschungen in dieser Nacht nahmen kein Ende. Im Briefkasten fand ich ein großes, mit Pappe verstärktes Briefkuvert ohne Adresse und Absender. Stattdessen war auf die Vorderseite des Kuverts das Gesicht von Frau Stadl gezeichnet. Sie grinste breit und ihre Zähne waren scharfe Messer. Auf der Stirn trug sie kleine, kräftige Teufelshörner. In ihre Haare waren Schlangen verwoben. Um ihren Hals trug sie ein etwas zu groß geratenes Amulett, in das ganz fein das Doppelporträt von zwei Jungen gezeichnet war, die sich vollständig ähnlich waren. Ein entrücktes Lächeln umspielte ihren Mund. Die Augen waren groß und wirkten seltsam verloren. Es war eine typische Zeichnung von Martha. Sie hatte einen ganz eigenen Strich mit dem Bleistift. Am unteren Bildrand ragte eine Faust in die Höhe. Darin steckte ein Dolch, der nach oben auf den Hals der Mutter zielte. Die Faust mit dem Dolch wirkte wie ein Fremdkörper, der sich in das Bild gedrängt hatte. Ich rätselte, wer die beiden Jungen waren. Ich war sehr gespannt, was das Kuvert enthielt, und stürmte die zwei Stockwerke hoch. In der Küche schnitt ich den Umschlag am Rand vorsichtig auf. Ich wollte die Zeichnung nicht verletzen. Behutsam zog ich den Inhalt aus dem Kuvert. Es waren zwei sehr sorgfältig ausgeführte Blätter, in der gleichen Manier gezeichnet wie die Skizze,
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