Kindswut
ihr Handeln. Wer sonst außer Frau Stadl kam als Täter in Frage? Ludwig, Martha? Ludwig schaffte es gerade noch, einem Glas Grauburgunder den Garaus zu machen. Philip, der Sohn? Auch den Gedanken verwarf ich. Ich kam zurück zu Ludwig und Martha. Was bedeuteten ihre Zeichnungen? Warum hatte sie sie mir in den Briefkasten gesteckt? Warum legte sie solchen Wert auf die sorgfältige Ausführung dieser beiden Zeichnungen? Das geschah nicht ohne Absicht. Aber welche verbarg sich dahinter? Sollte es eine Warnung sein, ein Hinweis? Steckte sie, samt Ludwig, in der Klemme, und konnten sie nicht mehr preisgeben, ohne selbst gefährdet zu sein? Da war immer noch das blutbefleckte Messer in meiner Hosentasche. Ich spulte die Darbietung des Jungen in meinem Kopf ab, seine rasende Attacke. Auf wen? Was wollte er mir zeigen? Ich rekapitulierte den Bericht von Frank Götz, dem Nachbarn der Frau Stadl. Frau Körner, Kindermädchen und Kupplerin, hatte ihr Ende in der Spree gefunden. Die Ignoranz des Jugendamtes. Warum war es so ignorant? All dem musste ich nachgehen. Musste ich tatsächlich?
»Das hätte schiefgehen können«, sagte der Beamte, als er mein Stahlbett inspizierte. Dagegen nahm sich meine Entführung im Kofferraum fast schon aus wie ein Scherz. Die Stromattacke wäre um ein Haar der direkte Weg ins ewige Glück gewesen. »Trau dich«, stand auf einem Flyer für Sonderangebote auf dem Friedhof. Mich fröstelte. Der Tod war anwesend und hinterließ seine Visitenkarte, in Form von blauen Penissen, garniert mit Hakenkreuzen, auf meiner weißen Wand. Der seltsamen Frau Maibaum musste ich auch einen neuerlichen Besuch abstatten. Wer hatte denn nun nach meinem unfreiwilligen Abgang die Grabrede gehalten?, sinnierte ich. Vielleicht war die Maibaum in meine Entführung verwickelt? Man meldete sich doch, wenn der Grabredner mir nichts, dir nichts gewaltsam aus der Leichenhalle geschleift worden war. »Hallöchen, hier Maibaum, wo waren Sie denn so plötzlich, lieber Herr Neuhaus, mit Ihrer Grabrede?« Ich gab das Grübeln auf und schlüpfte in meine Hose, aus der ich das in ein Geschirrtuch gewickelte Tranchiermesser zog. In welchem Labor konnte ich die Blutspuren auf der Klinge des Messers analysieren lassen? Ich konnte nicht einfach in ein Labor spazieren, hallo rufen, hier ist ein Messer, machen Sie mal ein Pröbchen. Wie sollte ich das begründen, wenn die im Labor Fragen stellten? Es war vertrackt. Ich brauchte Hilfe. Ich konnte mit dem Messer immer noch zur Polizei gehen. › Warum kommen Sie erst jetzt? Unterdrückung von Beweismaterial ist strafbar! ‹ – › Der Stromschlag war so heftig, ich vergaß das Messer! ‹ – › Aha! Aha! ‹ Sie würden Philip vernehmen. › Warum haben Sie diese Ketchup-Schlacht veranstaltet?‹, würden sie ihn fragen. Es wäre sinnlos. Er würde nicht antworten. Ich hatte ihm meine Schrankgeschichte in Andeutungen erzählt. Das hatte ihn offensichtlich berührt. Er hatte den Schrank verlassen und mir in der Küche mit seiner Darbietung eine Antwort gegeben. Das war ein Vertrauensbeweis. Dieses Vertrauen wollte ich nicht enttäuschen. Ich wollte ihn schützen, so, wie ich als Schrankzögling gegen eine böse Mutter hätte geschützt werden wollen. Da war niemand. Es gab keinen Zeugen. Ich war nicht auf der Welt. Die war weit weg, ganz woanders. Ich wollte Philip nicht der Polizei ausliefern. Er schien mir ausgeliefert genug.
Ich beschloss Barbara Vogelweide anzurufen. Sie war Fachärztin für Psychiatrie. Sie hatte ein Labor und konnte die Blutflecken auf der Klinge analysieren. Ich hatte Hemmungen, sie in diese Geschichte mit reinzuziehen. Noch zögerte ich. Wir hatten schon manche Schlacht zusammen geschlagen. Ihr konnte ich vertrauen. Ich wählte ihre Nummer. Sie meldete sich. Ich berichtete in groben Zügen.
»Komm vorbei.«
»Bin gleich da.« Als ich die Wohnungstüre öffnete, standen zwei Kerle in abgetragenen Anzügen vor mir. Sie studierten mein Namensschild.
»Neuhaus?« Der Mann hatte schweren Mundgeruch. »Kripo.« Der andere zeigte seinen Ausweis. Er hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe, als litte er an stetiger Übelkeit.
»Können wir reinkommen?«, sagte der mit dem Mundgeruch.
»Moment mal, um was geht’s denn?« Ich stellte mich breitbeinig in den Türrahmen. Der mit der gelblichen Gesichtsfarbe zog diverse Fotos aus der Innentasche seiner Jacke. »Gegen Sie liegt eine Anzeige vor. Wegen Autodiebstahls.« Er zeigte mir eines der Fotos. Ich war an der Fahrertüre
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