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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Zwischenwelt.
    »Hier können sich Beengtheit und Schmerz über den nahenden Verlust ins Träumerische entrücken. Viele Eltern lösen sich auf in Tränen und werden von ihren Kindern getröstet. Ich weiß manchmal nicht, wer nun stirbt. Die Mutter, der Vater, oder das Kind.«
    Sie zeigte mir den Garten. Er war groß, mit vielen Bäumen. Hinter einem Gatter standen Ponys und Ziegen. Ein Stall gehörte dazu. In der Mitte des Gartens war ein Teich. Sein Grund bestand aus feinem Kies. Der glitzerte silbrig. Das Wasser war klar. Kleine Kreise aus großen Kieseln bedeckten den Boden des Teiches. In jedem Kreis lag ein Gegenstand. Bunte Glasmurmeln, ein Spielzeugauto, ein Püppchen, eine Trillerpfeife. Schilf und gelbe Wasserlilien säumten den Rand des Teiches. Libellen schwirrten. »Das ist für die Eltern. Zur Erinnerung an das Kind. Sie bauen einen Kreis aus Kieseln und legen einen Gegenstand, der dem Kind gehörte, in den Kreis.« Es waren mehr Kreise, als ich in der Kürze der Zeit zählen konnte.
    Sie führte mich in ihr Büro. Unterwegs gab es eine Begegnung, die mir nicht aus dem Sinn ging. In einem Rollstuhl, aus ganz leichten Fiberglasstäben gebaut, dünn wie die Fühler von Insekten, rollte uns ein Kind entgegen, mit ganz dünnen Ärmchen und Beinchen, zerbrechlich wie Reisig, und einem Kopf, der auf dem zerbrechlichen Körper riesig wirkte. Ganz große, dunkle Augen sahen mich an. Der Kopf war kahl, die Nase war eine lange Kasperlenase. Jeden Moment, fürchtete ich, konnte alles an diesem spröden Wesen zerspringen und zerbrechen. Der leiseste Windhauch genügte. Haut fiel zu Boden, wie welke Blätter. Die dünnen Glasfiberstäbe ragten hinter dem Rücken des Kindes in die Höhe, wie Insektenfühler, die die Umgebung abtasteten, um jedes Anstoßen an ein Hindernis, das eine Erschütterung und eine Auflösung des fragilen kleinen Körpers auslösen könnte, zu vermeiden. Es rollte an uns vorbei. Ganz dicht. Das Gesicht war, aus der Nähe betrachtet, greisenhaft, mit vielen Fältchen überzogen, die sich wie ein feines Netz, aus Wasser gewoben, über das Gesicht legten. Das Kind war vorbeigerollt und verschwand hinter meinem Rücken. Eine Türe ging auf. Ein Mann mittleren Alters trug auf seinem Arm ein Kind, das mit einer bunten Wollhose und einem Pullover bekleidet war. Das Kind hatte den Oberkörper ganz weit nach hinten gekrümmt. Der Mund war weit geöffnet. Das Gebiss lag blank.
    »Ihm geht es gut«, rief der Mann, als er uns sah, und lachte. Das Kind gurgelte und schlug mit den Ärmchen. Der Mann verschwand in einem Zimmer.
    Wir waren im Büro von Frau Jodler angelangt. Sie kam gleich zur Sache.
    »Sie laufen mit einer Urne, die wie eine Schultüte aussieht, herum. Das bedeutet Tod. Was führt Sie zu uns?«
    Ich gab ihr die Urne.
    »Schauen Sie hinein.« Ich zeigte ihr das Guckloch. Sie hielt sich die Urne ans Auge. Statt ihres Kopfes sah ich die blaue, mit goldenen Sternen gesprenkelte Schultüte. Ihr Kopf war hinter den Sternen verschwunden.
    »Oh ja«, hörte ich. Ihr Kopf erschien wieder und sie gab mir die Schultüte zurück.
    »Sie kennen sie?« Sie war nicht auskunftswillig. Das sah ich ihr an. Ich nestelte das Hologramm aus meiner Hosentasche und reichte es ihr. »Wenn Sie nochmals Ihr Auge leihen möchten?« Sie schaute in das Hologramm und gab es mir wortlos zurück.
    »Ich suche diesen Jungen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen.«
    Sie fasste sich ein Herz. »Sie tauchte mit einem sehr kranken Menschen und dessen Mutter hier auf, pflegte ihn mehrere Tage, bis er starb, legte ihn in einen Sarg und nahm ihn mit. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Die Mutter habe ich nicht wieder gesehen. Sie war sofort nach der Einlieferung des Jungen gegangen.«
    »Der kranke Mensch ist der im Hologramm?«
    »Ja.«
    »Ist Ihnen nichts aufgefallen?« Sie überlegte. »Doch. Sie unterhielten sich mit Tierlauten.«
    »Sie kam einfach mit dem Jungen, unterhielt sich mit ihm in Tierlauten, und als er tot war, ging sie wieder, einfach so. Und Sie stellten keine Fragen?«
    »Wir stellen keine Fragen. Was wollen Sie ein sterbendes Kind fragen? Oder die Mutter? Oder wer auch immer sie war. Sie war rührend zu dem Jungen.«
    »Hatte der Junge ein Akkordeon?«
    »Nein. Er hätte kein Akkordeon halten können. Er war ein Krüppel.« Mehr konnte ich nicht erfahren. Der Junge, dessen Asche aus der zerbrochenen Urne rieselte, war also nicht Philip. Wer war er? Diese Frage konnte mir wahrscheinlich nur Philip beantworten,

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