Kindswut
am Russischen Ehrenmal vorbei, diesem Panzer mit seinem lächerlich kleinen Kanonenrohr, das dümmlich-bedrohlich in die Luft wies, und auf die Siegessäule zu. Die Trittzahl steigerte sich ins Unermessliche. Sie schrie und jubelte mit weit ausgebreiteten Armen. Berlin, wir kommen! Welt, umarme mich! Ich hatte mich erhoben, der Heizkessel glühte, meine Beine stießen die Pedalen wie die Antriebsstangen einer Dampflokomotive, rauf und runter, rauf und runter, ich keuchte, knurrte, grunzte, schrie ganz meinerseits, hatte ihren nackten Leib umfasst mit den Armen, sie roch nach Heu und heißem Schweiß, sie lenkte den Lenker, auf dem sie halb lag, sie hatte meine stampfenden Schenkel mit den ihren umschlungen, und ich stieß und stieß, und stieß, alles wie von selbst, alles eine Bewegung, Fahrrad, Pedale, Trittrhythmus, das Schäumen des Geschlechts, sie, ich, wir beide, ein Stöhnen und Jaulen und Kreischen und Wimmern und herrliches Gebrüll, das auf Charlottenburg zuraste, alle Ampeln der Bismarckstraße überfuhr, am Stutti endete, vor dem ›Dollinger‹, wo Doris mit offenem Mund stand, das Tablett in der Hand. › Fritz, das nächste Mal bin icke dran. ‹ Das hatte sie noch nie gesehen! Und gehört auch nicht, diese Lust, dieser Schrei aus dem Erdinnersten, platzender Vulkan, der zum Himmel stieg, und noch viel höher.
»Macht 12 Euro«, sagte sie, als wir vor dem ›Dollinger‹ hielten. Von Doris war nichts zu sehen. Das Tschilpen der Spatzen war zu hören. Ein vereinzeltes Zeitungsumblättern. Kaffeetassengeklirre. Ich kletterte aus der Rikscha und gab ihr einen Zwanziger. Ihre Haut war staubtrocken und nirgends auch nur die Spur einer Schweißperle. »Ihre Tüte!« Die Urne hatte ich fast vergessen. Sie wollte mir Wechselgeld geben.
»Stimmt so.«
»Okay.« Mit wiegenden Hüften fuhr sie davon. Ich würde die nächsten Tage auf dem Alex nach ihr Ausschau halten. Rikscha fahren. Einmal ganz Berlin und zurück. Sie einladen. Ins Kino gehen. Erzählen, wie es ist, hinter ihr in der Rikscha zu sitzen. Was ich nie wagen würde. Rikschaträume.
Ich betrat das ›Dollinger‹. Doris saß am Tresen auf einem Barhocker und las Zeitung. Sie nahm keine Notiz von mir. Daran würde sich so bald nichts ändern. Ich hüstelte also mehrmals. Der letzte Hüstler glich einem Erstickungsanfall. Sie fixierte mich entrüstet. »Willste was?«
Ich bestellte Dänisches Frühstück mit einer Extraportion Lachs. Mit vielen Zwiebelringen und Meerrettich und Gürkchen und Tomatenscheiben. Doris sagte keinen Ton. Sie pfiff auch nicht wie eine Amsel. Ich hatte sie beim Zeitungslesen an der Theke gestört. Ein Frevel. Jean, ihr Patron, war auf Segeltour in der Ostsee. Sein Kompagnon war auch schon wieder hackevoll. Er hatte die Nacht zuvor die Wände des ›Dollinger‹ mit Sonnenblumen bemalt. Die Malerei war sein Hobby. Die Sonnenblumen hatten die Form von Totenschädeln. Es sah gruselig aus. Es fehlte an Aufsicht. Zeit, dass Jean von seinem Törn zurückkam. Ich verließ das ›Dollinger ‹ und suchte mir draußen einen Platz unter der Markise. Die Sonne stach. Doris brachte das Dänische Frühstück.
Es sah sehr lecker aus. Die Zwiebelringe glänzten silbrig, der Quark duftete nach Kräutern, das Rot der Tomaten harmonierte mit dem Rot des Lachses, die feinen Gürkchen tummelten sich wie kleine, grüne Delphine im Meer aus weißem Quark, der üppige Dillbüschel deutete exotische Strände mit Palmenhainen an. Es war eine Pracht. Doch statt eines sanft geschwungenen Frauenbeines unter den Rändern eines Baströckchens tauchte eine knöchrige Frauenhand über meinem Teller auf, die sich mit zwei spitzen Fingern ein Gürkchen schnappte, wie ein zupickender Vogelschnabel, dieses in den Quark tunkte, und statt in das Gesicht einer Schönen aus Hawaii mit Blumen im Haar sah ich in den geöffneten Mund der Frau Stadl, die sich das Gürkchen einführte.
Ich war wie vom Donner gerührt. Ich erstarrte. Ich glaubte, einen Geist zu sehen. Ich hatte sie für tot gehalten, von Philip beseitigt. Jetzt saß sie da in voller Gier. Dem Gürkchen folgte ein Zwiebelring. Dann nahm sie die Gabel, füllte sie mit Quark, stach in eine Scheibe Lachs, und die Gabel lud wie eine vollbeladene Mistforke ihre Last im wieder weit geöffneten Mund der Frau Stadl ab. Es war, als wäre alles erst gestern gewesen, als sie mir schon einmal den Teller leer gepickt hatte. Sie tat es mit der größten Selbstverständlichkeit, als hätte es in der Zwischenzeit
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