Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
auf näher kommende Geräusche. Viel Zeit verlieren durfte ich nicht mehr.
Ich warf noch einen Blick auf Sharon. Ich ließ sie nicht gern so zurück, aber abzuwarten schien mir sinnlos. Ich wollte nicht mit ihrem Tod in Verbindung gebracht werden, und ich wollte mich nicht bis zur gerichtlichen Untersuchung in Las Vegas rumdrücken. Und keinesfalls wollte ich, daß Con Dolan dahinterkam, daß ich hier gewesen war. Vielleicht hatte die Mafia sie umgebracht oder irgendein Zuhälter, vielleicht auch der Mann im Kasino, der sie mit so hungrigen Augen betrachtet hatte, als sie ihm seine zweihundertfünfzig Piepen hinblätterte. Vielleicht aber wußte sie auch etwas über den Tod von Laurence Fife, das sie nicht erzählen sollte.
Ich ging an ihr vorbei. Ihre Finger waren im Tod entspannt, sahen anmutig aus, jeder mit einem langen, rosarot lackierten Nagel. Ich hielt die Luft an. Sie hatte doch den Zettel, auf dem mein Name und das Motel notiert waren, in ihre Zigarettenpackung gesteckt. Aber wo war die? Auf der Formica-Tischplatte sah ich sie nicht, wenn da auch eine Zigarette lag, die, offenbar ungeraucht, zu einer vollkommenen Aschensäule heruntergebrannt war. Weder auf der Couchlehne noch auf dem Schrank war eine Zigarettenpackung. Ich schaute noch mal ins Bad, während ich intensiv auf Geräusche von Polizeiwagen horchte. Ich hätte schwören können, daß ich in einiger Entfernung eine Sirene hörte, und Furcht beschlich mich. Mist. Ich mußte diesen Zettel finden. Der Mülleimer im Bad war voll mit Kleenex, einer Seifenschachtel, alten Zigarettenstummeln. Keine Zigarettenpackung auf dem Nachttisch. Keine auf der Kommode. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und sah mit Widerwillen auf sie runter. Da waren zwei geräumige Seitentaschen in dem grünen Velours-Morgenrock. Ich biß die Zähne zusammen, tastete vorsichtig. Die Packung war auf der rechten Seite, mit vielleicht noch sechs Zigaretten, der scharf gefaltete Zettel mit meinem Namen noch sichtbar unter dem Zellophan. Ich verstaute sie hastig in meiner Jacke.
Ich knipste die restlichen Lichter aus, glitt zur Tür zurück und öffnete sie einen Spalt. Ich konnte Stimmen hören, auffallend nah. Ein Mülleimerdeckel klapperte vor dem Appartement zu meiner Rechten.
»Man sollte dem Verwalter sagen, daß ihre Leuchte durchgebrannt ist«, bemerkte eine Frau. Es hörte sich an, als stände sie gleich neben mir.
»Warum sagst du’s ihr denn nicht?« kam die etwas ärgerliche Antwort.
»Ich glaub nicht, daß sie daheim ist. Sie hat kein Licht an.«
»Doch, sie ist da. Ich hab eben noch Licht brennen sehen.«
»Sherman, es brennt nicht. Da ist doch alles dunkel. Sie muß vorne rausgegangen sein«, sagte die Frau. Das Heulen der Sirene war sehr laut, wie ein Grammophon spulte sie den Ton ab.
Mein Herz schlug so heftig, daß mir der Brustkorb brannte. Ich schob mich hinaus auf den dunklen Patio, hielt an, um die Schlüssel wieder in den kleinen Spalt hinter der Plastik-Gießkanne zu legen. Ich hoffte bloß, daß es nicht meine Autoschlüssel waren, die ich versteckte. Ich glitt aus dem Patio, bog nach links, näherte mich wieder der Straße. Ich mußte mich zwingen, locker an dem Streifenwagen vorbeizugehen, der jetzt auf der Vorderseite parkte. Ich schloß meinen Wagen auf, stieg ein und drückte schnell den Knopf runter, als wäre jemand hinter mir her. Ich streifte die Gummihandschuhe ab. Mein Kopf schmerzte wild, und ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach und Galle in die Kehle stieg. Ich mußte weg hier. Ich schluckte krampfhaft. Die Übelkeit nahm zu, ich kämpfte gegen einen fast unwiderstehlichen Drang, mich zu übergeben. Meine Hände zitterten so stark, daß es mir kaum gelang, den Wagen anzulassen, aber schließlich schaffte ich es und lenkte vorsichtig vom Bordstein weg.
Als ich an der Einfahrt vorbeifuhr, konnte ich einen Streifenpolizisten sehen, der unterwegs zur Rückseite von Sharons Appartement war, die Hand auf dem Revolver an seiner Hüfte. Das schien mir etwas theatralisch für eine schlichte Unfallmeldung, und ich fragte mich schaudernd, ob da noch jemand anders angerufen hatte, der deutlicher geworden war als ich. Eine halbe Minute länger, und ich hätte in dieser Wohnung festgesessen und eine Menge erklären müssen. Die Vorstellung gefiel mir überhaupt nicht.
Ich fuhr zurück zum Bagdad und packte — und beseitigte alle Fingerabdrücke im Zimmer. Ich fühlte mich, als hätte ich leichtes Fieber. Eigentlich wollte ich mich nur
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