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Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Titel: Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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stand auf der Badezimmerkommode. Ich knipste das Licht an. Das Bad war leer.
    Ich ging zu den Türen des Wandschranks hinüber und schob eine auf, halb darauf gefaßt, den Schädel eingeschlagen zu bekommen. Beide Seiten des Schranks waren leer bis auf Kleidungsstücke. Ich stieß den lange angehaltenen Atem aus und nahm dann eine zweite rasche Durchsuchung der Wohnung vor. Ich vergewisserte mich, daß die Hintertür abgeschlossen war, zog die Küchenvorhänge vor das Fenster über der Spüle. Dann kehrte ich zurück zu Sharon. Sie hatte ein Einschußloch am Ansatz ihrer Kehle; es sah aus wie ein kleines Medaillon mit rohem Fleisch darin statt einem Foto. Blut war unter ihrem Kopf in den Teppich gesickert und hatte ihn zu der Farbe ungekochter Hühnerleber dunkeln lassen. Kleine Knochensplitter steckten in ihrem Haar. Ich vermutete, daß beim Einschlag der Kugel ihre Halswirbel zerschmettert worden waren. Noch Glück für sie. Kein Schmerz. Sie war anscheinend glatt zurückgeworfen worden, die Arme zu beiden Seiten des Körpers ausgebreitet, die Hüften leicht gedreht. Ihre Augen standen halb offen, das leuchtende Grün erschien jetzt trüb. Ihre blonden Haare sahen grau aus im Tod. Wäre ich wie vorgesehen dorthin gekommen, wäre sie vielleicht nicht tot, und ich wollte mich für meine schlechten Manieren entschuldigen, für die Verzögerung, für meine Übelkeit, für das Zuspätkommen. Ich wollte ihre Hand halten und sie ganz sachte wieder ins Leben zurückrufen, aber es ging ja nicht, und schlagartig wurde mir klar, daß ich, wenn ich rechtzeitig dort gewesen wäre, selbst auch tot sein könnte.
    Ich ließ meinen Blick aufmerksam durch das Zimmer gleiten. Der Reliefteppichboden war ausgetreten und verfilzt, so daß es keine Fußabdrücke gab. Ich ging zum Vorderfenster und zog die Vorhänge nach, um sicherzugehen, daß kein Spalt von außen Einblick gewährte, nachdem nun das Licht eingeschaltet war. Ich unternahm erneut einen kurzen Rundgang, und diesmal achtete ich mehr auf Einzelheiten. Das Bett war ungemacht. Das Bad war übersät mit feuchten Handtüchern. Schmutzige Wäsche quoll aus dem Korb. Auf dem Wannenrand stand ein Aschenbecher mit mehreren Zigarettenkippen, umgeknickt und plattgequetscht in der Art, wie ich sie es hatte tun sehen. Das Apartment bestand im Grunde nur aus diesen drei Räumen — Wohnzimmer mit Eßtisch bei den Vorderfenstern, Küche und Schlafzimmer. Das Mobiliar sah aus, als wäre es waggonweise bestellt worden, und ich nahm an, daß wenig davon ihr gehörte. Die Unordnung am Platz schien allein ihr Werk zu sein — Geschirr im Ausguß, nicht entleerter Abfall. Ich sah nieder auf die Papiere unter dem Telefon, eine Sammlung von Mahnungen und Rechnungen. Anscheinend hatte sich an ihrem Hang zu finanziellem Chaos seit den Tagen in Santa Teresa nichts geändert. Ich nahm den ganzen Stoß und stopfte ihn in meine Jackentasche.
    Wieder konnte ich das leise, metallische Quietschen hören, und ich ging zurück ins Bad und starrte auf das dumme kleine Tier hinunter. Es war braun und schmächtig, mit großen, roten Augen und schob geduldig seine Runden, die es nirgendwo hinbrachten. »Tut mir leid«, flüsterte ich, und Tränen brannten kurz auf meinen Lippen. Ich schüttelte den Kopf. Das war falsche Sentimentalität, und ich wußte es. Sein Wasserbehälter war voll, aber der Plastikfreßnapf war leer. Ich füllte ihn mit kleinen grünen Körnern, dann kehrte ich zum Telefon zurück, wählte das Amt und verlangte die Polizei von Las Vegas. Con Dolans Warnung klang mir dumpf in den Ohren. Es hätte gerade noch gefehlt, daß die Kripo von Las Vegas mich zur Vernehmung bat. Eine von diesen grimmigen Behördenstimmen kam nach dem zweiten Klingeln in die Leitung.
    »Ja, hallo«, sagte ich. In meiner Stimme war ein Zittern, und ich räusperte mich schnellstens. »Ich, ehm, vor ‘ner Weile hab ich’s in der Wohnung meiner Nachbarin krachen gehört, und jetzt antwortet sie nicht auf mein Klopfen. Ich mache mir Sorgen, daß sie sich verletzt hat. Könnten Sie da vielleicht mal nachsehen?«
    Er klang gereizt und gelangweilt, aber er notierte Sharons Adresse und sagte, er würde jemand hinschicken.
    Ich sah auf meine Uhr. Ich war noch keine dreißig Minuten in dem Appartement, aber es war Zeit zu verschwinden. Ich wollte nicht, daß das Telefon klingelte. Ich wollte nicht, daß jemand unerwartet an die Tür klopfte. Ich verzog mich nach hinten, drehte unterwegs die Lichter aus und horchte unbewußt

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