Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
Wellen von hellerem Grün bewegten.
»Nikki, haben Sie mit irgendwem darüber gesprochen, wo ich war und was ich vorhatte?« fragte ich.
»Überhaupt nicht«, sagte sie verblüfft. »Weshalb fragen Sie?«
Ich berichtete ihr von den Ereignissen der letzten Tage — Sharon Napiers Tod, meinen Gesprächen mit Greg und Diane, dem Brief, den ich unter Libby Glass’ Habseligkeiten gefunden hatte. Mein Vertrauen zu ihr war instinktiv.
»Würden Sie seine Handschrift erkennen?«
»Natürlich.«
Ich holte den braunen Umschlag aus meiner Tasche, nahm vorsichtig den Brief heraus und faltete ihn für sie auseinander. Sie blickte kurz darauf.
»Das ist er«, sagte sie.
»Ich hätte gern, daß Sie es lesen«, sagte ich. »Ich möchte sehen, ob es mit Ihren Vorstellungen von dem, was im Gange war, übereinstimmt.«
Widerstrebend richtete sie den Blick wieder auf die hellblauen Seiten. Als sie fertig war, erschien sie fast verlegen. »Ich hätte nicht gedacht, daß es so ernst war. Seine anderen Affären waren es nicht.«
»Was ist mit Charlotte Mercer?«
»Sie ist ein Aas. Eine Alkoholikerin. Sie rief mich mal an. Ich haßte sie. Und sie haßte ihn. Sie hätten mal hören sollen, was sie sagte.«
Ich faltete den Brief sorgfältig zusammen. »Ich kapiere das nicht. Von Charlotte Mercer zu Libby Glass. Das ist ein ziemlicher Sprung. Ich hielt ihn für einen Mann von Geschmack.«
Nikki zuckte die Achseln. »Er war leicht zu verführen. Das lag an seiner Eitelkeit. Charlotte ist schön... auf ihre Weise.«
»Wollte sie sich scheiden lassen? Lernten sie sich dadurch kennen?«
Nikki schüttelte den Kopf. »Wir verkehrten gesellschaftlich mit ihnen. Richter Mercer war mal so was wie ein Mentor von Laurence. Ich denke nicht, daß er je von dem Verhältnis erfahren hat — es hätte ihn umgebracht, glaube ich. Er ist jedenfalls der einzige anständige Richter, den wir haben. Sie wissen, wie die andern sind.«
»Ich habe nur kurz mit ihr gesprochen«, sagte ich, »aber ich wüßte nicht, wie sie in die Sache verwickelt sein soll. Es muß jemand gewesen sein, der wußte, wo ich war, und woher hätte sie das haben sollen? Irgend jemand muß mir nach Las Vegas gefolgt sein. Sharons Ermordung war zeitlich zu genau abgestimmt, als daß es ein Zufall gewesen sein könnte.«
Colin erschien an Nikkis Seite und legte das offene Fotoalbum oben aufs Geländer. Er deutete auf einen der Schnappschüsse und sagte etwas, das ich überhaupt nicht verstehen konnte, ein verworrenes Gemisch von Vokalen. Es war das erste Mal, daß ich ihn sprechen hörte. Seine Stimme war tiefer, als ich es bei einem Zwölfjährigen erwartet hätte.
»Das ist Dianes Schlußfeier an der Aufbauschule«, sagte sie zu ihm. Colin sah sie einen Moment an und deutete dann nochmals, eindringlicher. Er hob den Zeigefinger an seinen Mund und bewegte ihn schnell rauf und runter. Nikki krauste die Stirn.
»>Wer< wo, Liebling?«
Colin legte den Finger auf das Foto einer Gruppe von Leuten.
»Das sind Diane und Greg und Dianes Freundin Terri und Dianes Mutter«, sagte sie mit ausgesuchter Deutlichkeit zu ihm und gab ihm zugleich Zeichen.
Ein verwirrtes Lächeln trat in Colins Gesicht. Colin breitete die Hände aus, legte den Daumen erst an die Stirn und dann aufs Kinn.
Diesmal lachte Nikki, ihr Gesichtsausdruck war ebenso verwirrt wie seiner.
»Nein, das ist Großmama«, sagte sie, indem sie auf ein Foto auf der vorhergehenden Seite zeigte. »Dies hier ist Dianes Mutter, nicht die von Papa. Die Mutter von Greg und Diane. Erinnerst du dich nicht an Oma? Ach Gott, wie sollte er.« Nikki warf mir einen Blick zu. »Er war erst ein Jahr alt, als sie starb.« Sie schaute wieder auf ihn.
Colin gab ein paar Kehllaute von sich, etwas Verneinendes und Enttäuschtes. Ich fragte mich, was mit seiner Laune passieren würde, wenn die Pubertät ihn erst richtig einholte. Wieder der Daumen an die Stirn, dann aufs Kinn. Nikki warf mir erneut einen Blick zu. »Er sagt dauernd >Papas Mutter< zu Gwen. Wie erklärt man bloß >Exfrau« Sie gab nochmals geduldig Zeichen.
Colin schüttelte leicht den Kopf, war plötzlich verunsichert. Er beobachtete sie noch einen Moment, als könnte vielleicht noch irgendeine andere Erklärung folgen. Dann nahm er das Album und zog sich zurück, die Augen weiterhin auf Nikkis Gesicht geheftet. Er gab noch einmal Zeichen und errötete verlegen. Anscheinend wollte er vor mir nicht dumm dastehen.
»Wir gehen die gleich alle mal durch«, signalisierte sie
Weitere Kostenlose Bücher