Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
erstreckte. Colin stand mit dem Rücken zu mir und knetete Brot mit vollendeter Konzentration. Sein Haar hatte den gleichen hellen, farblosen Ton wie das von Nikki und kräuselte sich ebenso seidig an seinem Nacken herunter. Seine Arme wirkten drahtig und stark, seine Hände geschickt, die Finger waren lang. Er nahm den Teig an den Rändern auf, drückte ihn zusammen und wendete ihn. Er sah aus, als stände er gerade an der Grenze zur Pubertät, so daß er zwar schon in die Höhe schoß, aber noch nicht linkisch war. Nikki berührte ihn, und er drehte sich rasch um; sein Blick glitt sofort zu mir herüber. Ich war verblüfft. Er hatte große, etwas schrägliegende Augen, beinah olivgrün, und dichte, dunkle Brauen. Sein Gesicht war schmal, das Kinn spitz, die Ohren bildeten zierliche Spitzen, ein koboldhafter Effekt, da auch das feine Haar auf seiner Stirn spitz zulief. Diese beiden sahen aus wie eine Illustration aus einem Märchenbuch — zerbrechlich und schön und seltsam. Seine Augen waren friedlich, leer, strahlend vor wacher Intelligenz. Ich habe den gleichen Ausdruck bei Katzen gesehen, in ihrem weisen, distanzierten, ernsten Blick.
Als ich mit Nikki sprach, beobachtete er unsere Lippen, während seine eigenen sich atemlos teilten, so daß die Wirkung merkwürdig sexuell war.
»Ich glaube, ich hab mich gerade verliebt«, sagte ich lachend. Nikki lächelte und gab Colin knappe Zeichen mit grazilen Fingern. Colin warf mir ein Lächeln zu, viel älter, als er an Jahren war. Ich merkte, wie ich rot wurde.
»Sie haben ihm das hoffentlich nicht gesagt«, meinte ich. »Wir müßten wahrscheinlich zusammen abhauen.«
»Ich sagte ihm, Sie wären meine erste Freundin seit dem Gefängnis. Ich sagte ihm, Sie bräuchten was zu trinken«, erwiderte sie, immer noch Zeichen gebend; ihre Augen ruhten auf Colins Gesicht. »Meistens verständigen wir uns nicht soviel durch Zeichen. Ich frische nur meine Kenntnisse auf.«
Während Nikki eine Flasche Wein öffnete, sah ich Colin beim Kneten des Brotteigs zu. Er bot mir an, ihm zu helfen, und ich schüttelte den Kopf, da ich lieber seinen agilen Händen zuschaute, unter denen der Teig auf fast magische Weise glatt wurde. Während er knetete, gab er hin und wieder rauhe, unverständliche Laute von sich, offenbar ohne sich dessen bewußt zu sein.
Nikki schenkte mir gekühlten Weißwein in ein Glas mit langem Stiel, nahm selbst aber Perrier. »Auf die Bewährung«, sagte sie.
»Sie sehen sehr viel entspannter aus«, sagte ich.
»Oh, das bin ich auch. Ich fühle mich großartig. Es ist so gut, ihn hierzuhaben. Ich laufe ihm überallhin nach. Ich komme mir vor wie ein junger Hund. Er kriegt keine Ruhe.«
Ihre Hände bewegten sich automatisch, und ich konnte sehen, daß sie die an mich gerichteten Worte simultan für ihn übersetzte. Ich empfand mich als plump und unbeholfen, weil ich nicht auch in Zeichen sprechen konnte. Mir schien, als gäbe es Dinge, die ich ihm selbst sagen wollte, Fragen, die ich ihm stellen wollte, über das Schweigen in seinem Kopf. Es war wie eine Art Scharade: Nikki, die Körper, Arme und Gesicht gebrauchte, ihr ganzes Selbst einsetzte, Colin, der beiläufig zurücksignalisierte. Er schien viel schneller zu sprechen als sie, ohne Überlegung. Manchmal geriet Nikki ins Stocken, rang um ein Wort, fand es und lachte über sich selber, wenn sie ihm ihre Vergeßlichkeit zu verstehen gab. Ihr Lächeln in diesen Momenten war sanft, voller Zuneigung, und ich beneidete sie beide um diese besondere Welt der Geheimnisse, der Selbstironie, worin Colin der Meister und Nikki der Lehrling war. Ich konnte mir Nikki mit keinem anderen Kind vorstellen.
Colin legte den weichen Teig in die Schüssel und drehte ihn einmal, um seine helle Oberfläche mit Butter zu bestreichen, worauf er ihn sorgfältig mit einem sauberen weißen Handtuch abdeckte. Nikki winkte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihm das Fotoalbum zeigte. Colin ließ sich auf dem Rand der Couch nieder und beugte sich vor, die Ellbogen auf seinen Knien, das offene Album vor sich auf dem Tisch. Sein Gesicht war unbewegt, doch seine Augen erfaßten alles, und er war bereits in die Schnappschüsse vertieft.
Nikki und ich gingen auf die Terrasse. Es wurde spät, aber das Sonnenlicht war noch hell genug, um die Illusion von Wärme zu erzeugen. Sie stand am Geländer und schaute hinaus auf den unter uns grollenden Ozean. Stellenweise konnte ich Tangknäuel dicht unter der Oberfläche sehen, dunkle Stränge, die sich in
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