Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
Handgelenken, und an der Manschette konnte ich federartigen blonden Flaum sehen. Da war auch noch etwas anderes an ihm, schwelend und dunkel; erneut hatte ich diesen Eindruck von Sexualität, die hin und wieder an die Oberfläche kam. Manchmal schien er einen fast hörbaren Summton auszusenden, wie eine Formation von Kraftwerken, die unerbittlich einen Berg entlangmarschiert, unheilvoll und mit Warnschildern versehen. Ich hatte Angst vor ihm.
Der Kellner nickte und ging fort. Charlie wandte sich mit hintergründiger Belustigung wieder mir zu. Ich spürte, wie mir die Worte wegblieben, aber er tat, als ob er es nicht merkte, und ich empfand undeutlich, daß ich ihm dafür dankbar war, und errötete leicht. Ich war mit der gleichen Befangenheit geschlagen, die ich einmal auf einer Geburtstagsparty im sechsten Schuljahr erlebt hatte, als mir aufging, daß all die andern kleinen Mädchen in Nylonstrümpfen gekommen waren und ich immer noch alberne weiße Socken trug.
Der Kellner kehrte mit einer Flasche Wein zurück, und Charlie vollzog das übliche Ritual. Als unsere Gläser gefüllt waren, stieß er mit mir an, die Augen auf meinem Gesicht. Ich nahm einen Schluck und staunte über die Köstlichkeit des hellen und kühlen Weins.
»Wie laufen denn die Nachforschungen?« fragte er, als der Kellner gegangen war.
Ich schüttelte den Kopf, brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. »Darüber will ich nicht reden«, sagte ich brüsk, fing mich dann aber. »Ich möchte nicht unhöflich sein«, fügte ich in sanfterem Ton hinzu. »Ich glaube nur nicht, daß es etwas nützt, darüber zu reden. Es läuft nicht gut.«
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte er. »Es wird bestimmt besser.«
Ich zuckte mit den Schultern und sah zu, wie er sich eine Zigarette anzündete und das Feuerzeug zuschnappen ließ. »Ich wußte nicht, daß Sie rauchen«, bemerkte ich.
»Hin und wieder«, sagte er. Er bot mir das Päckchen an, und ich schüttelte erneut den Kopf. Er wirkte entspannt, selbstbeherrscht, ein Mann von Charme und Niveau. Ich kam mir dumm und mundfaul vor, aber er schien keine Erwartungen an mich zu stellen und redete weiter über belanglose Dinge. Es war, als ob er mit halber Geschwindigkeit agierte, sich mit allem Zeit ließe. Dadurch wurde mir die gewohnheitsmäßige Anspannung bewußt, mit der ich lebe, dieser krasse Zustand bloßliegender Nerven, der mich im Schiaf mit den Zähnen knirschen läßt. Manchmal bin ich derart überreizt, daß ich ganz vergesse zu essen, erst abends fällt es mir ein, und selbst dann habe ich keinen Hunger, schlinge aber trotzdem Nahrungsmittel in mich hinein, als könnte ich durch Masse und Geschwindigkeit das Versäumte aufholen. In Charlies Gegenwart merkte ich, wie meine innere Uhr sich umstellte, mein Rhythmus sich dem seinen anglich. Nach dem zweiten Glas Wein seufzte ich auf, und da erst wurde mir klar, daß ich mich verkrampft hatte wie ein Springteufel, der daraul wartet, aus dem Kasten zu schnellen.
»Fühlen Sie sich besser?« sagte er.
»Ja.«
»Gut. Dann essen wir.«
Die Mahlzeit, die folgte, war eine der sinnlichsten, die ich jemals erlebt hatte: frisches, zartes Brot mit blättriger Kruste, bestrichen mit einer sahnigen Pastete; Boston-Salat mit einer köstlichen Vinaigrette; in Butter gebratene Seezungen, serviert mit saftigen grünen Trauben. Zum Nachtisch gab es frische Erdbeeren mit einem Schlag Sahne, und die ganze Zeit hatte ich Charlies Gesicht vor mir, verdunkelt von diesem Schatten einer Warnung, dieser Andeutung von etwas Starkem, Furchtbarem, das er zurückhielt und das mich zu ihm zog, noch während ich mich in Schach gehalten fühlte.
»Wie sind Sie in der juristischen Fakultät gelandet?« fragte ich, als der Kaffee kam.
»Durch Zufall vermutlich. Mein Vater war ein Säufer und Penner, ein echtes Mistvieh. Hat mich viel herumgestoßen. Nicht ernsthaft. Mehr wie ein Möbelstück, das ihm im Weg stand. Meine Mutter hat er auch geschlagen.«
»Fördert nicht gerade die Selbstachtung«, tippte ich an.
Charlie zuckte die Achseln. »Für mich war es eigentlich gut. Es hat mich gestählt. Hat mir klargemacht, daß ich mich auf niemanden als mich selbst verlassen konnte. Das kann man ruhig schon mit zehn lernen. Ich nahm mein Leben in die Hand.«
»Sie haben Schule und Studium selbst finanziert?«
»Cent für Cent. Ich verdiente mir Geld als Ghostwriter für Holzköpfe. Half ihnen bei Prüfungen aus und schrieb Drei-minus-Arbeiten für sie, damit niemand
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