Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
schüttelte den Kopf. Kapierte ich nicht. Ich warf einen Blick auf den Kalender. Seit zwei Wochen arbeitete ich jetzt für Nikki. Es kam mir vor, als hätte sie mich erst vor einer Minute angeheuert, und es kam mir vor, als wäre ich schon mein Leben lang an diesem Fall. Ich ließ mich nach vorn kippen und schnappte mir einen Notizblock, rechnete die Zeit zusammen, die ich aufgewendet hatte, und zählte die Spesen hinzu. Ich tippte das alles ab, kopierte meine Quittungen und steckte die ganze Loseblattsammlung in einen Umschlag, den ich ihr mit der Post an den Strand schickte. Ich ging in die Büros von California Fidelity und palaverte mit Vera, die Schadensanträge bei ihnen bearbeitet.
Ich ließ das Mittagessen sausen und machte um drei Feierabend. Auf dem Heimweg hielt ich an, um die großformatigen Farbfotos von Marcia Threadgill abzuholen, und einen Augenblick blieb ich im Auto sitzen und betrachtete mein Werk. Ein so fesselndes Zeugnis von Habgier und Betrug wird mir nicht oft geboten. Die beste Aufnahme (ich hätte sie »Porträt einer Nassauerin« nennen können) war die, wo Marcia auf ihrem Küchenstuhl stand und unter dem Gewicht der Pflanze, die sie hochhob, die Schultern spannte. Ihre Brüste hingen unter dem gehäkelten Oberteil herunter wie fleischige Melonen, die den Boden eines Einkaufsnetzes durchbrochen haben. Das Bild war so deutlich, daß ich erkennen konnte, wo die Wimperntusche schwarze Pünktchen auf ihren Lidern hinterlassen hatte wie die Spuren eines winzigen Tieres. So ein Miststück. Ich lächelte grimmig in mich hinein. Wenn so die Welt funktionierte, dann wollte ich das nicht vergessen. Ich hatte mich inzwischen damit abgefunden, daß Miss Threadgill ihren Kopf durchsetzen würde. Schwindler gewinnen andauernd. Das war nichts sonderlich Neues, aber es war wert, daß man es sich merkte. Ich schob alle Aufnahmen wieder in den braunen Umschlag. Ich ließ den Wagen an und fuhr nach Hause. Nach Laufen war mir heute nicht zumute. Ich wollte mich hinsetzen und grübeln.
24
Ich heftete das Foto von Marcia Threadgill an mein Pinbrett und starrte darauf. Ich kickte meine Schuhe weg und ging umher. Den ganzen Tag hatte ich nachgedacht, und es führte zu nichts, deshalb holte ich das Kreuzworträtsel hervor, das Henry mir vor die Tür gelegt hatte. Ich schaffte es sogar, 6 Senkrecht zu erraten — »falsches Spiel« mit elf Buchstaben, das war »Doppelspiel«, und ich schaffte 14 Waagerecht, »Musikstück für 2 Stimmen«, fünf Buchstaben — »Duett«. Wie reizend. Ich biß mich fest an »Doppelhelix«, drei Buchstaben, die spätere Lösung dafür hieß »DNA«, ein Schwindel, wenn Sie mich fragen. Um fünf nach sieben hatte ich einen Einfall, der wie eine kleine elektrische Entladung aus den Winkeln meines Gehirns hervorblitzte.
Ich schlug die Telefonnummer von Charlotte Mercer nach und wählte ihren Privatanschluß. Die Haushälterin meldete sich, und ich fragte nach Charlotte.
»Der Richter und Mrs. Mercer sind beim Abendessen«, meinte sie mißbilligend.
»Würden Sie sie bitte trotzdem rufen? Ich habe nur eine kurze Frage. Es wird ihr bestimmt nichts ausmachen.«
»Was soll ich dann sagen, wer anruft?« fragte sie. Ich nannte ihr meinen Namen.
»Einen Moment.« Sie legte den Hörer hin.
Ich korrigierte sie im stillen. Denn, Süße. Was soll ich denn sagen, wer anruft...
Charlotte klang betrunken, als sie an den Apparat kam. »Ich muß doch sehr bitten«, fauchte sie.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich brauche eine Information.«
»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß, und ich will nicht, daß Sie anrufen, wenn der Richter hier ist.«
»Gut. Schön. Nur eine Sache«, sagte ich hastig, bevor sie auflegen konnte. »Erinnern Sie sich zufällig, wie Mrs. Napier mit Vornamen hieß?«
Stille. Ich konnte förmlich sehen, wie sie den Hörer von sich hielt, um ihn anzuschauen.
»Elizabeth«, sagte sie und knallte ihn auf die Gabel.
Ich hängte ein. Das fehlende Teil, das ich suchte, war soeben an seinen Platz gerückt. Der Brief war gar nicht an Libby Glass gerichtet. Laurence Fife hatte ihn Vorjahren an Elizabeth Napier geschrieben. Darauf hätte ich gewettet. Die Frage war jetzt vielmehr, wie er in den Besitz von Libby Glass gelangt war und wer ihn hatte zurückhaben wollen.
Ich holte meine Notizkarten heraus und nahm mir meine Liste noch einmal vor. Raymond und Grace Glass hatte ich bewußt gestrichen. Ich glaubte nicht, daß einer von ihnen ihr eigenes Kind umgebracht hatte,
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