Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
erhaschte ich einen Blick auf Charlie, der neben der Behelfsgarage stand. Ich legte den ersten Gang ein und fuhr davon.
23
Ich habe noch nie gut einstecken können, besonders nicht von Männern. Erst eine Stunde, nachdem ich heimgekommen war, beruhigte ich mich. .Acht Uhr, und gegessen hatte ich immer noch nichts. Ich goß mir ein großes Glas Wein ein und setzte mich an meinen Schreibtisch. Ich holte ein paar leere Karteikarten heraus und fing an zu arbeiten. Um zehn aß ich zu Abend — ein hartgekochtes, in Scheiben geschnittenes Ei, noch heiß auf Weizenbrot, mit reichlich Mayonnaise und Salz, wozu ich eine Pepsi und eine Tüte Mais-Chips aufmachte. Bis dahin hatte ich alle Informationen, die ich besaß, auf die Karteikarten übertragen und sie an mein Pinbrett geheftet.
Ich sagte mir die Geschichte in großen Zügen vor und ließ meinen Spekulationen freien Lauf. Ich meine, warum nicht? Viel mehr blieb mir im Augenblick nicht übrig. Es schien wahrscheinlich, daß jemand an dem Wochenende, als der deutsche Schäferhund überfahren wurde, in das Haus der Fifes eingebrochen war, während Nikki und Laurence mit Colin und Greg am Saltonsee waren. Es schien außerdem wahrscheinlich, daß Sharon Napier nach dem Tod von Laurence irgend etwas herausgebracht hatte — was (vielleicht) der Grund war, weshalb auch sie sterben mußte. Ich fing an Listen zu machen und brachte meine Informationen, zusammen mit den halbgaren Gedanken, die mir im Hinterkopf rumorten, in ein System. Ich tippte meine Seiten ab und ordnete sie alphabetisch, beginnend bei Lyle Abernathy und Gwen.
Ich verwarf nicht den Gedanken, daß Diane und Greg möglicherweise beteiligt waren, wenn mir auch die Vorstellung, daß einer von beiden ihn oder gar Libby Glass getötet haben könnte, irrig erschien. Ich schloß Charlotte Mercer in meine Liste ein. Sie war boshaft und verdorben, und ich glaubte nicht, daß sie irgendwelche Energien oder Kosten gescheut hätte, um die Welt genauso hinzudrehen, wie sie sie haben wollte. Sie konnte jemanden beauftragt haben, wenn sie sich nicht die Mühe machen wollte, ihn selbst umzubringen. Und wenn sie ihn umgebracht hatte, warum dann nicht auch Libby Glass? Warum nicht Sharon Napier, wenn Sharon dahintergekommen war? Ich kam zu dem Schluß, daß es sich empfehlen könnte, bei den Fluggesellschaften nachzufragen, ob ihr Name um die Zeit von Sharons Tod auf irgendeiner Passagierliste für Las Vegas erschien. Das war eine Quelle, an die ich noch nicht gedacht hatte. Ich merkte sie mir vor. Charlie Scorsoni stand noch immer auf meiner Liste, und diese Erkenntnis hatte eine beunruhigende Wirkung.
Es klopfte an die Tür, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, ein Adrenalinstoß durchfuhr mich. Ich sah auf meine Uhr: fünf vor halb zwei. Mein Herz klopfte so stark, daß mir die Hände zitterten. Ich ging an die Tür und beugte den Kopf vor.
»Ja?«
»Ich bin’s«, sagte Charlie. »Kann ich reinkommen?«
Ich öffnete die Tür. Charlie lehnte am Rahmen. Kein Jackett. Kein Schlips. Tennisschuhe ohne Socken. Sein breites, gut geschnittenes Gesicht sah ernst und milde aus. Er betrachtete mich forschend und sah dann weg. »Ich bin dir zu sehr aufs Dach gestiegen, und es tut mir leid«, sagte er.
Ich musterte sein Gesicht. »Du hattest eine berechtigte Klage«, erwiderte ich. Ich wußte, daß mein Tonfall trotz des Inhalts meiner Worte unversöhnlich war, und ich wußte, daß ich ihn strafen wollte. Er brauchte mich nur anzusehen, um meine wahre Einstellung zu erraten, und es frustrierte ihn ziemlich.
»Himmel Herrgott, können wir nicht einfach mal reden?« sagte er.
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und ging von der Tür weg. Er kam herein und schloß sie hinter sich. Mit dem Rücken zur Tür, die Hände in den Taschen, sah er zu, wie ich durch das Zimmer strich und an meinen Schreibtisch zurückschwenkte, wo ich anfing, Karteikarten abzuhängen, Papiere wegzuräumen.
»Was willst du von mir?« sagte er hilflos.
»Was willst du denn von mir ?« blaffte ich zurück. Ich fing mich und hob die Hand. »Entschuldige. Ich wollte nicht diesen Ton anschlagen.«
Er starrte auf den Fußboden, als versuchte er, seine nächsten Schritte auszuknobeln. Ich setzte mich in den Polsterstuhl neben der Couch und schwang die Beine über die Lehne.
»Was zu trinken?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. Er ging zur Couch hinüber, setzte sich schwer und legte den Kopf zurück. Sein Gesicht wirkte faltig, die Stirn zerfurcht.
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