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Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren

Titel: Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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drum.«
    »Danke.« Ich hing ein.
    »Ist jemand tot?« fragte Arlette. »War es jemand, den Sie gekannt haben?«
    Ich schaute sie direkt an, aber das half auch nichts. Warum Gwen? Was ging da vor sich?
    Sie folgte mir aus dem Büro und in Richtung auf mein Zimmer.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie etwas? Sie sehen schrecklich aus, Kinsey. Sie sind blaß wie ein Gespenst.«
    Ich schloß die Tür hinter mir. Ich dachte an das letzte Bild von Gwen, wie sie auf der Straße stand, mit bleichem Gesicht. Konnte es ein Unfall gewesen sein? Ein Zufall? Dafür ging alles zu schnell. Irgend jemand fing an, die Nerven zu verlieren, und zwar aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz erfaßte.
    Eine Möglichkeit schoß mir plötzlich durch den Kopf und verschwand wieder. Ich stand stockstill und spulte sie wie einen alten Filmausschnitt noch einmal ab. Es konnte sein. Vielleicht ja. Bald würde alles seinen Platz finden. Alles würde zusammenpassen.
    Ich schmiß meine Sachen auf den Rücksitz des Autos und machte mir nicht einmal die Mühe, mich abzumelden. Ich würde Arlette die verdammten zwölf Dollar mit der Post schicken.

    Die Fahrt ins Tal war nebelhaft, der Wagen bewegte sich von selbst, dabei achtete ich in keiner Weise auf Straße, Sonne, Verkehr oder Smog. Als ich das Haus in Sherman Oaks erreichte, wo Lyle die Backsteinfassade mauerte, sah ich seinen zerbeulten Kleinlaster auf der Vorderseite stehen. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren, und ich wollte keine Spielchen spielen. Ich schloß das Auto ab, ging die Einfahrt hoch und um die Seite des Hauses herum nach hinten. Ich sah Lyle, bevor er mich erblickte. Er stand gebeugt über einem Stapel Vierkanthölzer: verwaschene Jeans, Arbeitsstiefel, kein Hemd, Zigarette im Mundwinkel.
    »Lyle.«
    Er drehte sich um. Ich hatte die Pistole draußen und zielte auf ihn. Ich hielt sie mit beiden Händen, breitbeinig, meinte es ernst. Er blieb sofort bewegungslos stehen, er sagte kein Wort.
    Mir war kalt, und meine Stimme klang gepreßt, aber die Pistole wankte kein bißchen. »Ich möchte ein paar Antworten, und zwar jetzt gleich«, sagte ich. Ich sah ihn nach rechts blicken. Da lag ein Hammer auf der Erde, aber er rührte sich nicht.
    »Gehen Sie zurück«, sagte ich und trat ein wenig vor, bis ich zwischen ihm und dem Hammer war. Er befolgte die Anweisung, richtete die hellblauen Augen wieder auf mich und hob die Hände.
    »Ich will nicht auf Sie schießen, Lyle, aber ich würde es tun.«
    Ausnahmsweise sah er weder mürrisch noch verschlagen noch arrogant drein. Zum erstenmal erlebte ich, daß er mich mit einem Anflug von Respekt betrachtete.
    »Sie sind der Boß«, sagte er.
    »Lassen Sie die Sprüche «, fauchte ich. »Ich bin nicht in Stimmung dafür. Jetzt setzen Sie sich ins Gras. Da drüben. Und rühren Sie keinen Muskel, bis ich es Ihnen sage.«
    Gehorsam ging er zu einem schmalen Grasstreifen hinüber und setzte sich, wobei er mich immerzu im Auge behielt. Es war still, und ich konnte Vögel hören, die stupide zwitscherten, aber wir schienen allein zu sein, und so gefiel es mir. Ich hielt die Pistole direkt auf seine Brust gerichtet und zwang meine Hände, nicht zu zittern. Er mußte in der brennenden Sonne die Augen zusammenkneifen.
    »Erzählen Sie mir von Libby Glass«, sagte ich.
    »Ich hab sie nicht umgebracht«, gab er unbehaglich zurück.
    »Darum geht es nicht. Ich will wissen, was da los war. Ich will das wissen, was Sie mir noch nicht erzählt haben. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
    Er hielt den Mund.
    » Heraus damit .«
    Er hatte nicht Gwens Haltung, und er hatte nicht ihren Grips. Der Anblick der Pistole schien ihm auf die Sprünge zu helfen.
    »Samstags.«
    »An dem Tag, als sie starb, ja?«
    »Das stimmt, aber ich habe nichts getan. Ich bin zu ihr gefahren, und wir hatten einen dicken Krach, und sie regte sich auf.«
    »Schon gut, schon gut. Sparen Sie sich die Nebensächlichkeiten. Was noch?«
    Er schwieg.
    »Lyle«, sagte ich warnend. Seine Gesichtsmuskeln zogen sich langsam zusammen wie ein Schnürverschluß, und er fing an zu weinen. Kläglich schlug er sich die Hände vors Gesicht. Er hatte das lange zurückgehalten. Wenn ich mich hier irrte, dann irrte ich mich in allem. Ich konnte ihn nicht in Ruhe lassen.
    »Erzählen Sie’s mir«, sagte ich tonlos. »Ich muß es wissen.« Ich dachte, er sei am Husten, aber ich wußte, es waren Schluchzer, was ich hörte. Er hätte neun Jahre alt sein können, so in sich

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