Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
völlig einwandfreie Beziehung vermasselt hatte. Er schien mir nicht der Typ zu sein, der verzeiht und vergißt, aber wer konnte es wissen? Er war sehr viel nachgiebiger als ich, das stand fest. Meine Gedanken liefen zusammenhanglos weiter. Lyle hatte gewußt, daß ich nach Vegas fahren wollte. Ich war mir nicht sicher, welchen Platz Sharon einnahm, aber das würde ich herausfinden. Erpressung schien immer noch das Wahrscheinlichste. Den Brief kapierte ich gar nicht. Wie war Libby zu ihm gekommen? War sie es überhaupt? Vielleicht steckten Lyle und Sharon unter einer Decke. Vielleicht kriegte Lyle den Brief von ihr. Vielleicht hatte er den Brief eigens unter Libbys Habseligkeiten deponiert und nicht versucht, ihn sich zu holen. Es war zweifellos zu seinem Vorteil, den Eindruck eines romantischen Bandes zwischen Libby und Laurence Fife zu verstärken. Er hatte auch gewußt, daß ich auf dem Rückweg ihre Kisten abholen wollte. Er hätte sehr gut wieder vor mir in Los Angeles sein können, da ich eine Übernachtung eingeschoben hatte, um mit Diane zu sprechen. Vielleicht hatte er den Zeitpunkt extra knapp gewählt, um meine Neugier darüber anzustacheln, was dort verborgen sein könnte. Hier schweiften meine Gedanken ab, und mit einem leisen Lächeln dachte ich an Lieutenant Dolan. Er war so sicher, daß Nikki ihren Mann umgebracht hatte, so überzeugt davon. Ich mußte ihn unbedingt anrufen, wenn ich zurückkam. Ich dachte wieder an Lyle. Ich hatte nicht vor, ihn noch an diesem Abend aufzusuchen. Er war nicht so schlau wie Gwen, aber er konnte gefährlich sein. Falls er es war. Ich fand, ich sollte nicht schon wieder voreilige Schlüsse ziehen.
Ich meldete mich um fünf nach elf im Hacienda an, ging schnurstracks auf Zimmer z und legte mich ins Bett. Arlettes Mutter saß am Empfang. Sie ist doppelt so dick.
Am Morgen duschte ich, stieg in dieselben Kleider und torkelte immer noch schläfrig hinaus zum Auto, um den Handkoffer herauszuholen, den ich auf dem vollgepackten Rücksitz hatte. Ich ging wieder auf mein Zimmer, putzte mir die Zähne — welch ein Segen — und fuhr mir mit dem Kamm durch die Haare. Dann ging ich in ein Café am Wilshire, Ecke Bundy und bestellte mir Rührei, Würstchen, ein getoastetes Hörnchen mit Rahmkäse, Kaffee und frischen Orangensaft. Wer immer das Frühstücken erfunden hat, er hat etwas Gutes getan.
Ich kehrte zum Hacienda zurück, wo Arlette mir mit einem wuchtigen Arm aus der Bürotür zuwinkte. Ihr Vollmondgesicht war rot angelaufen, ihr Lockenschopf ein blondes Flattern, ihre Augen durch die dicken Backen fast bis zur Unsichtbarkeit eingezwängt. Wann hatte sie bloß zuletzt ihren eigenen Hals gesehen? Aber ich mochte sie, so lästig sie zuweilen auch war.
»Da ist jemand am Telefon für Sie, und die klingt ganz durcheinander. Ich sagte ihr, Sie wären weg, aber ich würde Sie reinrufen. Gott sei Dank sind Sie wieder da«, sagte sie völlig atemlos zu mir und keuchte schwer.
So aufgeregt hatte ich Arlette nicht erlebt, seit sie erfahren hatte, daß es Strumpfhosen jetzt auch in Übergröße gab. Ich trat in das Büro, dicht gefolgt von Arlette und ihren Atemstößen. Der Hörer lag auf der Theke, und ich ergriff ihn.
»Hallo?«
»Kinsey, hier ist Nikki.«
Weshalb die Angst in ihrer Stimme, dachte ich unwillkürlich. »Ich versuchte Sie gestern abend anzurufen«, sagte ich. »Was ist los? Sind Sie okay?«
»Gwen ist tot.«
»Ich habe gestern abend noch mit ihr gesprochen«, sagte ich ausdruckslos. Selbstmord. Sie hatte sich umgebracht. O Scheiße, dachte ich.
»Es ist heute morgen passiert. Unfall mit Fahrerflucht. Sie ist den Cabana Boulevard entlanggejoggt, und jemand hat sie überfahren und das Weite gesucht.«
»Ich faß es nicht. Sind Sie sicher?«
»Völlig. Ich wollte Sie anrufen, und Ihr Auftragsdienst sagte, Sie wären auswärts. Was tun Sie in L. A.?«
»Ich muß hier was nachprüfen, aber heute abend bin ich wohl wieder zurück«, sagte ich und überlegte schnell. »Würden Sie mal sehen, ob Sie die Einzelheiten in Erfahrung bringen können?«
»Ich kann’s versuchen.«
»Rufen Sie Lieutenant Dolan vom Morddezernat an. Sagen Sie, ich hätte Sie darum gebeten.«
»Morddezernat«, sagte sie entgeistert.
»Nikki, er ist ein Polyp. Er wird wissen, was los ist. Und vielleicht war es ohnehin kein Unfall, also hören Sie mal seine Stellungnahme, und ich rufe Sie an, sobald ich zurückkomme.«
»Na, ist gut«, meinte sie zweifelnd. »Ich kümmere mich
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