Kinsey Millhone 02- In aller Stille
helfen. Keine Chance. Dann versuchte ich, sie Atemzug um Atemzug hinauszustoßen, weiter von der Taille aus knetend. Die Schmerzen wurden nicht schlimmer, aber sie ließen auch nicht nach. Schließlich verlangsamte ich mein Tempo auf einen Gehschritt, bis sie abflauten, doch in dem Moment, in dem ich wieder mit dem Joggen begann, fraß sich der Stich wieder fest und bremste meinen Lauf. Inzwischen hatte ich die Wende erreicht, aber Rennen schien jetzt so sinnlos, daß ich die gesamten eineinhalb Meilen zu meiner Wohnung zurückging und fluchte. Mir war nicht einmal der Schweiß ausgebrochen, und meine Frustration hatte sich verdoppelt, statt sich zu verflüchtigen.
Ich duschte und zog mich wieder an. Ich wollte nicht ins Büro zurück, aber ich zwang mich. Ich würde ganz von vorne anfangen, zum Anfang zurückgehen und neue Linien ins Wasser ziehen müssen, um zu sehen, ob irgendwo einer anbiß. Meine ganze Trickkiste war jetzt so ziemlich aufgebraucht, doch es mußte noch etwas anderes geben.
Als ich ins Büro kam, sah ich das Blinken des Signallichts am Anrufbeantworter. Ich öffnete die Türen, um ein bißchen Luft hereinzulassen, und drückte dann den Rücklaufknopf.
»Hallo, Kinsey. Hier ist Lupe vom Santa Teresa Travel. Es sieht so aus, als hätten Sie auf Ihrer Gepäckfährte den Vogel abgeschossen. Ich habe die Gepäckaufbewahrung von TWA angerufen und den Angestellten nachsehen lassen. Die vier Taschen standen genau da. Er sagte, er könne sie heute nachmittag einem Flugzeug mitgeben, wenn Sie wollen. Würden Sie mich zurückrufen und Bescheid sagen, was Sie tun möchten?«
Ich stoppte das Band, schüttelte beide Fäuste in der Luft und rief mir mit einem fetten Grinsen zu »Na klaaar!« Zuerst rief ich Jonah an und erzählte ihm, was los war. Ich war wie elektrisiert. Das waren die ersten guten Nachrichten für mich, seit ich die Katze gefunden hatte. »Was soll ich machen, Jonah? Werde ich eine Art gerichtlicher Befugnis brauchen, um die Taschen zu öffnen?«
»Scheiß drauf. Schau, du hast die Aufbewahrungsscheine, oder?«
»Klar, sie liegen hier vor mir.«
»Dann flieg nach Florida runter und hol dir die Koffer.«
»Warum soll ich sie nicht einfach herfliegen lassen?«
»Angenommen, sie steckt in einem«, meinte er.
Das beschwor nun allerdings ein Bild, das mir gar nicht gefiel. Ich spürte, wie ich mich wand. »Glaubst du nicht, daß das inzwischen jemand bemerkt hätte? Du weißt schon, ein Geruch... etwas, das heraustropft?«
»Hör mal, wir haben mal eine Leiche gefunden, die sechs Monate im Kofferraum eines Wagens gelegen hatte. Jemand hatte die Hacken in die Kehle einer Hure gehauen, und sie endete als Mumie. Frag mich nicht wie oder warum, aber sie war überhaupt nicht verwest. Sie trocknete einfach aus. Sie sah aus wie eine große Lederpuppe.«
»Vielleicht sollte ich mir ein Flugzeug nehmen«, bemerkte ich.
An diesem Abend gegen zehn Uhr befand ich mich wieder in der Luft.
19
Als wir morgens um 4.56 Uhr östlicher Zeit landeten, nieselte es, und die Temperatur betrug schon fast zwanzig Grad. Es war noch dunkel draußen, aber im Flughafen herrschten das matte Licht und die künstliche Kühle eines Raumschiffes, das sich in hundertzehn Meilen Entfernung auf seiner Umlaufbahn dreht.
Zielstrebig gingen Frühreisende die ausgestorbenen Flure entlang, während sich Türen mit einem >schsch<-Geräusch automatisch öffneten und schlossen und das Lautsprechersystem ohne Hoffnung auf Reaktion immer weiter und weiter brummte. Soweit ich wußte, war der ganze Betrieb mechanisch und funktionierte um diese Zeit noch ohne jegliche menschliche Hilfe.
Das Büro des TWA-Gepäckservice öffnete nicht vor neun, also hatte ich noch Zeit totzuschlagen. Ich hatte kein eigenes Gepäck mitgebracht, nur eine große Leinentasche, in der ich eine Zahnbürste und den ganzen Krimskrams des täglichen Lebens aufbewahrte, einschließlich sauberer Unterhosen. Ich fahre niemals ohne Zahnbürste und saubere Unterhose weg. Um mich frisch zu machen, ging ich zur Damentoilette. Ich wusch mir das Gesicht und fuhr mir mit den feuchten Fingern durchs Haar. Dabei fiel mir auf, wie fahl meine Haut im Neonlicht wirkte. Eine Frau stand hinter mir und wechselte die Windeln eines dieser übergroßen Babys, die aussehen wie ein strenger Erwachsener mit rosigen Wangen. Das Kind hatte den Blick ernsthaft auf mich gerichtet, während seine Mutter sich ihm zuwandte. Manchmal sehen mich Katzen auf diese Art an, als wären wir
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