Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
zögerte dann und zog einen Pillenvorrat heraus, der einen Elefanten abgefüllt hätte. Sie befanden sich in einer Reißverschlußtasche, vielleicht zweihundert Kapseln: Nembutal, Seconal, blau-orangefarbene Tuinal, Antidepressiva, Aufputschmittel — wie das farbenfrohe Lager einer exotischen Baumwollfirma.
Kleinerts Gesichtsausdruck war voller Verzweiflung. Er sah zu Derek auf, die Tasche an einer Ecke haltend. Beweisstück A in einer Verhandlung, die nach meiner Vermutung schon eine Zeitlang dauerte.
»Was sind das für Dinger?« fragte Derek. »Wie ist sie drangekommen ?«
Kleinert schüttelte den Kopf. »Laß uns erst einmal allein sein, dann können wir uns darüber Gedanken machen.«
Glen Callahan hatte sich bereits umgedreht und den Raum verlassen. Ich hörte ihre Absätze zielbewußt zur Treppe klappern. Bobby nahm meinen Arm, und wir beide gingen auf den Flur hinaus.
Anscheinend hatte Derek immer noch Mühe, zu verstehen, was hier geschehen war. »Wird sie wieder gesund werden?«
Dr. Kleinert murmelte eine Antwort, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte.
Bobby brachte mich in ein Zimmer auf der anderen Seite des Flurs und schloß die Tür. »Wir sollten ihnen nicht im Weg sein. Nachher gehen wir hinunter.« Er rieb sich die Finger seiner kranken Hand, als seien sie ein Talisman. Das Schleppen in seiner Stimme war wieder da.
Das Zimmer war riesig. Die tiefliegenden Fenster führten auf die Rückseite des Grundstücks hinaus. Der weiße Teppichboden hatte einen dichten, kurzen Flor, der so frisch gesaugt war, daß Bobbys Fußabdrücke darin sichtbar blieben. Sein Doppelbett erschien geradezu winzig in diesem etwa hundert Quadratmeter großen Raum, an den sich zur Linken ein Ankleidezimmer anschloß, hinter dem noch etwas lag, das offensichtlich ein Badezimmer war. Auf einer antiken Fichtentruhe für Bettzeug am Fußende des Bettes stand ein Fernsehgerät. An der Wand zu meiner Rechten befand sich ein langer, eingebauter Schreibtisch mit einer weißen Kunststoffoberfläche. Eine IBM Selectric II und die Tastatur, der Monitor und der Printer für einen Heimcomputer waren darauf aufgebaut. Die Bücherregale waren ebenfalls aus weißem Kunststoff und fast ausschließlich mit Medizinbüchern angefüllt. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Sitzecke: zwei gepolsterte Sessel und ein Liegesofa, das mit einem karierten Stoff in Weiß, Rostfarben und Schieferblau überzogen war. Der Kaffeetisch, die Leselampe, die Bücher und Zeitschriften, die sich daneben stapelten, deuteten darauf hin, daß Bobby hier seine Freizeit verbrachte.
Er ging zu einer Gegensprechanlage an der Wand und drückte einen Knopf.
»Callie, wir verhungern hier oben. Würdest du uns wohl ein Tablett raufschicken? Wir sind zu zweit, und wir brauchen auch etwas Weißwein.«
Ich hörte ein dumpfes Klappern im Hintergrund — Geschirr, das in die Geschirrspülmaschine geräumt wurde. »Ja, Mr. Bobby. Ich werde Alicia etwas hochbringen lassen.«
»Danke.«
Er humpelte zu einem Sessel und setzte sich. »Ich esse, wenn ich aufgeregt bin. Das hab ich schon immer getan. Komm, setz dich. Scheiße, ich hasse dieses Haus. Früher habe ich es geliebt. Als Kind fand ich es großartig. Platz zum Rennen. Platz, sich zu verstecken. Ein Hof, der ins Unendliche ging. Heute fühle ich mich hier wie in einem Kokon. Isoliert. Aber es kann das Schlechte nicht abhalten. Man friert hier. Frierst du?«
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich.
Ich setzte mich in den anderen Sessel. Er schob das Sofa hinüber, und ich legte die Füße hoch. Ich fragte mich, wie es sein mußte, in einem Haus wie diesem zu leben, wo man sich um alle Bedürfnisse kümmerte, wo jemand anderer für den Einkauf und das Kochen verantwortlich war und für das Waschen, die Abfallbeseitigung, die Gartenpflege. Welche Freiheiten bleiben einem da?
»Wie ist es, wenn man aus einer so gut gestellten Umgebung kommt? Ich kann mir das nicht einmal vorstellen.«
Er zögerte und hob den Kopf.
Aus der Ferne hörten wir den Krankenwagen näherkommen. Die Sirene schwoll zum Crescendo an und leierte dann mit einem Seufzer des Bedauerns herunter. Er sah mich an und tupfte sich unsicher das Kinn ab. »Glaubst du, daß wir überheblich sind?« Die beiden Hälften seines Gesichts schienen widersprüchliche Botschaften auszusenden: die eine lebhaft, die andere tot.
»Woher soll ich das wissen? Ihr lebt entschieden besser als die meisten anderen Menschen«, meinte ich.
»Hör mal, wir
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