Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
gut.«
Ich sah ihn einen Moment lang an und fühlte mich jetzt selbst verunsichert. »Ich werde es dir erklären. Du kommst mir vor wie ein Geburtstagsgeschenk, das jemand per Post geschickt hat. Das Papier ist zerrissen, und die Schachtel ist kaputt, aber es ist immer noch etwas ganz Tolles drin. Ich bin gern mit dir zusammen.«
Ein halbes Lächeln zeigte sich und verschwand wieder. Er sah erst zum Haus hinüber und dann wieder zu mir. Er hatte noch etwas anderes im Kopf, doch es schien ihm peinlich zu sein, es zuzugeben.
»Und?« ermunterte ich ihn.
Er legte den Kopf schief, und dieser Ausdruck in seinen Augen war mir nicht unbekannt. »Wenn ich okay wäre... wenn ich intakt wäre, hättest du dann mal über eine Beziehung zu mir nachgedacht? Ich meine, Mann-Frau-mäßig?«
»Willst du die Wahrheit wissen?«
»Nur wenn sie schmeichelhaft ist.«
Ich lachte. »Die Wahrheit ist, wenn ich dich vor dem Unfall zufällig kennengelernt hätte, wäre ich eingeschüchtert gewesen. Du bist zu gutaussehend, zu reich und zu jung. Also hätte ich nein sagen müssen. Wenn du >intakt< wärst, wie du es ausdrückst, hätte ich dich wahrscheinlich überhaupt nicht kennengelernt. Du bist wirklich nicht mein Typ, weißt du?«
»Was ist dein Typ?«
»Das habe ich noch nicht rausgefunden.«
Er sah mich eine Minute lang mit einem komischen Lächeln an.
»Würdest du mir vielleicht mal verraten, was in deinem Kopf vorgeht?« forderte ich ihn auf.
»Wie schaffst du es, alles so rumzudrehen, daß ich froh bin, so deformiert zu sein?«
»Mein Gott, du bist nicht deformiert. Jetzt hör auf damit! Wir sehen uns später.«
Er lächelte und warf die Wagentür zu. Dann trat er zurück, damit ich wenden und auf der anderen Seite der Einfahrt hinausfahren konnte.
Ich fuhr zu meiner Wohnung zurück. Es war erst Viertel nach fünf. Ich hatte noch Zeit, einen Lauf einzuschieben, obwohl ich mich fragte, ob das so klug wäre. Bobby und ich hatten den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht, Bier und Bourbon und schlechten Chablis zu trinken und gegrillte Spareribs und Sauerteigbrot zu kauen, das einem die Plomben aus den Zähnen ziehen konnte. Ich hatte wirklich mehr Lust auf ein Schläfchen als auf einen Lauf, aber ich dachte, die Selbstdisziplin könnte mir guttun.
Ich zog mir die Joggingsachen an und absolvierte drei Meilen mit gleichzeitiger geistiger Gymnastik, bei der ich mich mit der Organisierung dieses Falls beschäftigte. Das schien eine wacklige Geschichte zu sein, und ich wußte nicht, wo ich anfangen sollte. Ich dachte, am besten ginge ich zuerst zu Dr. Fraker in die Pathologische Abteilung des St. Terry und besuchte vielleicht bei dieser Gelegenheit auch Kitty. Dann würde ich es mit dem Zeitungsarchiv versuchen und mir die mühselige Arbeit machen, die Lokalnachrichten aus der Zeit vor dem Unfall durchzusehen, um zu überblicken, was damals los war. Vielleicht würde ein Vorfall von damals Licht auf Bobbys Behauptung werfen, daß jemand versucht hatte, ihn umzubringen.
Um sieben ging ich auf ein Glas Wein zu Rosie hinüber. Ich fühlte mich unruhig und überlegte, ob Bobby nicht irgend etwas in mir in Bewegung gesetzt hatte. Es war schön, mit jemandem so befreundet zu sein, schön, sich einen Nachmittag in netter Gesellschaft zu vertreiben, schön, jemanden zu haben, auf dessen Gesicht ich mich freuen konnte. Ich war nicht sicher, wie ich unsere Beziehung einzuordnen hatte. Meine Zuneigung zu ihm war keinesfalls mütterlicher Art. Schwesterlich vielleicht. Er war ein guter Freund, und ich brachte ihm all die Bewunderung entgegen, die man einem guten Freund entgegenbringt. Er war amüsant, und das Zusammensein mit ihm war entspannend. Ich war schon so lange allein, daß eine Beziehung, egal welcher Art, verführerisch erschien.
Ich holte mir an der Theke ein Glas Wein, setzte mich dann in die hintere Nische und inspizierte das Lokal. Für einen Dienstagabend war ganz schön was los. Und das bedeutet, daß zwei Typen näselnd an der Theke diskutierten und ein altes Paar aus der Nachbarschaft sich einen großen Teller Pfannkuchen mit Schinken teilte. Rosie blieb mit einer Zigarette hinter der Theke sitzen. Der aufsteigende Rauch bildete um ihren Kopf herum einen Ring aus Nikotin und Haarspray. Sie ist Mitte Sechzig, Ungarin und herrisch. Ein Geschöpf aus getönten kastanienbraunen Locken, die sie in der Mitte gescheitelt trägt. Festgeklebt hat sie sie mit Sprays, die auf den Regalen von Lebensmittelgeschäften
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