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Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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sagte Bobby. Ich dachte, er wollte weiterreden, also wartete ich.
    Er ging ein paar Meter vor. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Ihm war eindeutig nicht wohl, als er den felsigen Abhang hinunterschaute. Über die Schulter hinweg sah ich mich nach den wenigen vorbeifahrenden Autos um. Keiner achtete auch nur im geringsten auf uns.
    Ich studierte die Gegend und erkannte einen der abgeschrammten Felsen wieder, den ich auf den Fotos gesehen hatte. Weiter unten war der nackte, gezackte Stumpf der entwurzelten Zwergeiche. Ich wußte, daß die Polizei von Santa Teresa das Gebiet von allen Unfalltrümmern gereinigt hatte, so daß es nicht nötig war, eine Lupe hervorzuzaubern oder im Gebüsch herumzukriechen, um es nach Hinweisen abzusuchen.
    Bobby drehte sich zu mir um. »Warst du jemals dem Tode nah?«
    »Ja.«
    »Ich erinnere mich, daß ich dachte: >Das war’s. Ich bin tot.< Ich fühlte mich losgelöst wie eine an den Wurzeln ausgerissene Pflanze. Schwebend.« Er hielt inne. »Und dann war mir kalt, und alles tat weh, und Leute redeten auf mich ein, aber ich verstand kein einziges Wort. Das war im Krankenhaus, nachdem zwei Wochen vergangen waren. Seitdem überlege ich, ob sich neugeborene Babys so fühlen. So verwirrt und desorientiert. Hilflos. Es war ein solcher Kampf, mit der Welt in Kontakt zu bleiben. Neue Wurzeln auszustrecken. Ich wußte, daß ich wählen konnte. Ich hatte kaum einen Halt, kaum eine Verbindung, und ich fühlte, wie leicht es wäre, sich einfach fallenzulassen und wie ein Ballon davonzusegeln.«
    »Aber du hast nicht aufgegeben.«
    »Nein, aber es war meine Mutter, die das geschafft hat. Jedesmal, wenn ich die Augen öffnete, sah ich ihr Gesicht. Und wenn ich die Augen schloß, hörte ich ihre Stimme. Sie sagte: >Wir werden das schaffen, Bobby. Wir werden das hinkriegen, du und ich.<«
    Er schwieg wieder. Ich dachte, meine Güte, was muß das für ein Gefühl sein, eine Mutter zu haben, die einen so lieben kann? Meine Eltern waren bei einem grotesken Verkehrsunfall gestorben, als ich fünf war. Wir hatten uns auf einem Sonntagsausflug befunden und fuhren nach Lompoc hoch, als ein riesiger Felsbrocken den Berg heruntergestürzt kam und durch die Windschutzscheibe knallte. Mein Vater war auf der Stelle tot, und der Wagen prallte vor die Felswand. Ich hatte auf dem Rücksitz gesessen und war bei dem Aufprall auf den Boden geworfen worden. Der gebrochene Rahmen hatte mich eingekeilt. Meine Mutter lebte noch eine Weile; sie stöhnte und schrie und verfiel schließlich in ein Schweigen, das, wie ich spürte, unheilvoll und endgültig war. Man brauchte Stunden, um mich aus dem Wrack zu befreien, in dem ich mit den geliebten Toten eingeschlossen war, die mich für immer verlassen hatten. Danach wurde ich von einer äußerst sachlichen Tante aufgezogen, die ihr Bestes tat und mich innig liebte, aber mit einer Nüchternheit, die einen Teil meiner Persönlichkeit vernachlässigte.
    Bobby war eine Liebe von solcher Größe eingeflößt worden, daß sie ihn aus dem Grab zurückgeholt hatte. Es war seltsam, aber obwohl er so krank war, erfuhr ich plötzlich einen Neid, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich fühlte ein Lachen sprudeln, und er sah sich verwirrt nach mir um.
    Ich zog ein Kleenex hervor und putzte mir die Nase. »Mir wurde gerade bewußt, wie sehr ich dich beneide«, meinte ich.
    Er lächelte wehmütig. »Da bist du die erste.«
    Wir stiegen wieder ins Auto. Es hatte keine erhellende Erinnerung gegeben, kein plötzliches Wiederaufleben von Tatsachen, doch ich hatte den schmutzigen Abgrund gesehen, in den er geschleudert worden war, und ich spürte das Band zwischen uns stärker werden.
    »Bist du nach dem Unfall schon mal hier oben gewesen?«
    »Nein. Ich hatte nicht den Nerv dazu, und es hat nie jemand vorgeschlagen. Hatte Angst.«
    Ich ließ den Wagen an. »Wir wär’s mit einem Bier?«
    »Wie wär’s mit einem Bourbon on the rocks?«
    Wir fuhren zur Stage Coach Tavern gleich an der Hauptstraße und redeten den ganzen Nachmittag lang.

8

    Als ich Bobby um fünf bei ihm zu Hause absetzte, zögerte er, nachdem er aus dem Wagen gestiegen war. Wie er es schon einmal getan hatte, stand er da, eine Hand auf die Tür gelegt, und schaute zu mir hinein.
    »Weißt du, was ich an dir mag?« fragte er.
    »Was?« fragte ich zurück.
    »Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich nicht so verunsichert, nicht so verkrüppelt oder häßlich. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber es tut

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