Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
sie Richtung Tür, und Henry stürzte hinterher. Rosie blieb ungerührt. Sie lächelte geheimnisvoll wie eine Katze mitten in einem Mäusetraum. Wir Gäste im Lokal wurden alle fünf sehr still und widmeten uns geflissentlich unseren eigenen Gedanken, damit Rosie nicht auf die Idee kam, sich unerklärlicherweise uns zuzuwenden und uns mit lebenslangem Lokalverbot zu belegen.
Zwanzig Minuten vergingen, bevor Rosie einen Vorwand fand, in meine Richtung zu kommen. Mein Weinglas war leer, und sie brachte mir mit beispielloser Bereitwilligkeit ein volles. Sie stellte das zweite Glas auf den Tisch, faltete dann die Hände vor sich und wackelte ein bißchen auf der Stelle. Das macht sie, wenn sie Aufmerksamkeit erregen möchte, oder das Gefühl hat, man habe ihre kulinarischen Fertigkeiten nicht ausgiebig genug mit Lob gewürdigt.
»Scheint, Sie haben sich ihrer angenommen«, bemerkte ich.
»‘ne vulgäre Frau. Schreckliches Geschöpf. Sie war schon einmal hier, und ich kann sie kein bißchen ausstehen. Henry muß total übergeschnappt sein, mit ‘nem Flittchen wie der mein Lokal zu betreten. Wer ist sie?«
Ich zuckte die Achseln. »Schauen Sie, ich weiß nur, daß sie Lila Sams heißt. Sie hat ein Zimmer bei Mrs. Lowenstein gemietet, und Henry scheint verknallt zu sein.«
»Ich werde ihr eine knallen, wenn sie nochmal hier reinkommt! Sie hat irgend etwas Komisches an ihren Augen.« Rosie verzog das Gesicht und brachte mich mit ihrer Imitation von Lila zum Lachen. Rosie ist im allgemeinen ein humorloser Mensch, und ich hatte keine Ahnung von ihrer scharfen Beobachtungsgabe, geschweige denn von ihren schauspielerischen Fähigkeiten. Natürlich meinte sie es todernst. Sie nahm sich zusammen. »Was will sie überhaupt von ihm?«
»Wie kommen Sie darauf, daß sie etwas von ihm will? Vielleicht sind die beiden einfach bloß an ein bißchen Gesellschaft interessiert. Henry ist sehr attraktiv, wenn Sie mich fragen.«
»Ich hab dich nicht gefragt! Er ist sehr attraktiv. Er ist auch ein guter Kumpel. Also, wozu braucht er die Gesellschaft dieser kleinen Schlange?«
»Wie man so sagt, Rosie, läßt sich über Geschmack nicht streiten. Vielleicht besitzt sie ausgleichende Qualitäten, die nicht auf Anhieb offensichtlich sind.«
»O nein. Nicht die. Die führt nichts Gutes im Schilde. Ich werde mit Mrs. Lowenstein reden. Was ist mit ihr los, daß sie an so eine Frau untervermietet?«
Das fragte ich mich auch, als ich den halben Block nach Hause ging. Mrs. Lowenstein ist eine Witwe, die über beträchtlichen Grundbesitz in der Gegend verfügt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie Geld brauchte, und ich war neugierig, wie Lila den Schritt über ihre Schwelle geschafft hatte.
Als ich zu meiner Wohnung kam, brannte Henrys Küchenlampe noch, und ich hörte den gedämpften Klang von Lilas Stimme, schrill und untröstlich. Der Zusammenprall mit Rosie hatte sie offensichtlich komplett aus der Fassung gebracht, und Henrys gemurmelte Beruhigungen halfen nicht. Ich schloß meine Tür auf, ging in die Wohnung und sperrte das Gezänk erfolgreich aus.
Ich las eine Stunde lang — sechs spannende Kapitel in einem Buch über Einbruch und Diebstahl — und ging dann früh zu Bett und wickelte mich in meine Steppdecke. Ich machte das Licht aus und lag eine Weile im Dunkeln. Ich hätte schwören können, daß ich das entfernte Auf und Ab von Lilas Gejammere immer noch hörte, wie eine Mücke um mein Ohr kreisend. Die Worte konnte ich nicht heraushören, aber der Ton war eindeutig... zänkisch und zickig. Vielleicht würde Henry merken, daß sie nicht so nett war, wie sie vorgab. Obgleich, vielleicht auch nicht. Ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie lächerlich sich Männer und Frauen machen können, wenn sie hinter Sex her sind. Um sieben wachte ich auf und trank eine Tasse Kaffee, während ich die Zeitung las. Dann fuhr ich zu meinem Mittwochstraining zum Santa Teresa Fitness Center. Ich fühlte mich stärker, und das zweitägige Jogging ließ meine Beine wohlig schmerzen. Der Morgen war heiter und noch nicht heiß, und der Himmel war leer wie eine Leinwand vor dem Bemalen. Der Parkplatz an der Halle war fast schon besetzt, und ich schnappte mir die letzte freie Lücke. Ich entdeckte Bobbys Wagen zwei Plätze weiter und lächelte, weil ich mich auf ihn freute.
Die Halle war überraschend voll für einen Tag mitten in der Woche: fünf oder sechs Einhundertzwanzig-Kilo-Typen beim Gewichtheben, zwei Frauen in hautengen
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