Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
besetzte Liege. Zimmergenossen, wie ich annahm.
Dr. Fraker sah mich wieder an. »Ich habe oben noch ein paar Dinge zu erledigen; wie wär’s, wenn ich Sie beide allein lasse? Sie können ihn fragen, was Sie wissen wollen. Kelly hat mit ihm gearbeitet. Vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben, und dann können wir uns nochmal unterhalten, wenn Sie Bescheid wissen.«
»Großartig«, stimmte ich zu.
10
Nachdem Dr. Fraker gegangen war, nahm sich Kelly Borden eine Sprühflasche mit Desinfektionsmittel und begann es auf die Nirostatheken zu spritzen und methodisch wieder abzuwischen. Ich war mir nicht sicher, ob er das wirklich machen mußte, aber es gestattete ihm, den Blick abgewandt zu halten. Es war eine höfliche Art, mich zu ignorieren, doch ich hatte nichts dagegen. Ich nutzte die Zeit, um durch den Raum zu gehen und durch gläserne Schranktüren zu spähen, hinter denen sich Skalpelle, Pinzetten und schreckliche kleine Metallsägen verbargen.
»Ich dachte, es sind mehr Leichen hier«, überlegte ich laut.
»Da drin.«
Ich sah zu der Tür hinüber, durch die er gekommen war. »Kann ich hineingehen?«
Er zuckte die Achseln.
Ich ging durch den Raum und öffnete die Tür, neben der ein Thermometer hing, das fünf Grad anzeigte. Der Raum, der ungefähr die Größe meines Appartements hatte, war von Fiberglaspritschen gesäumt, die wie bizarre Kojen in Reihen angeordnet waren. Acht Leichen waren zu sehen, die meisten in das gleiche gelbliche Plastik gehüllt, durch das ich in einigen Fällen Arme und Beine und offene Wunden ausmachen konnte. Blut und Körperflüssigkeiten kondensierten an der Oberfläche der Plastikhüllen. Zwei Leichen waren mit Laken bedeckt. Auf der mir am nächsten stehenden Pritsche lag eine alte Frau, die nackt und reglos wie Holz war und ein wenig dehydriert wirkte. In der Mitte ihres Körpers war ein dramatischer, Y-förmiger Schnitt gemacht und mit großen, plumpen Stichen wieder zugenäht worden, wie bei einem gefüllten und aufgespießten Hühnchen. Ihre Brüste breiteten sich seitwärts aus wie alte Bohnensäcke, und ihre Schamgegend war so haarlos wie die eines jungen Mädchens. Ich wollte sie bedecken, aber wozu? Sie war jenseits von Kälte, jenseits von Schmerz, Scham und Sex. Ich beobachtete ihre Brust, aber es gab kein beruhigendes Heben und Senken. Der Tod wirkte allmählich wie ein Gesellschaftsspiel — wer kann am längster den Atem anhalten? Ich merkte, daß ich selbst wieder tief eingeatmet hatte, weil ich daran nicht teilhaben wollte. Ich schloß die Tür und ging in die Wärme des Autopsieraums zurück. »Wieviele können Sie hier unterbringen?«
»Im Notfall vielleicht fünfzig. Ich habe nie mehr als acht oder so erlebt.«
»Ich dachte, die meisten Toten werden direkt zur Leichenhalle gebracht.«
»Das ist auch so, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben sind. Wir bekommen alles andere. Mordopfer, Selbstmörder, Unfälle, jeden Tod, dessen Ursache zweifelhaft oder ungewöhnlich ist. Die meisten werden obduziert und dann innerhalb recht kurzer Zeit für die Leichenhalle freigegeben. Von den zehn, die wir hier haben, sind einige mittellos. Ein paar sind Unbekannte, die wir in der Hoffnung hierbehalten, eines Tages eine positive Identifizierung zu erhalten. Manchmal dauern die Begräbnisvorbereitungen länger, so daß wir die Leiche für die nächsten Angehörigen aufbewahren. Zwei haben wir jetzt seit Jahren hier. Franklin und Eleanor. Wie Maskottchen.«
Ich legte meine Arme übereinander, weil ich fröstelte. Dann brachte ich das Thema wieder auf die Lebenden. »Kannten Sie Bobby gut?« fragte ich. Ich drehte mich um, lehnte mich gegen die Wand und beobachtete ihn beim Polieren der Wasserhähne an dem Nirosta-Becken.
»Ich kannte ihn fast gar nicht. Wir haben in verschiedenen Schichten gearbeitet.«
»Wie lange arbeiten Sie schon hier draußen?«
»Fünf Jahre.«
»Was fangen Sie sonst mit Ihrer Zeit an?«
Er hielt inne und sah zu mir hoch. Anscheinend mochte er diese persönlichen Fragen nicht, war aber zu höflich, das zu sagen. »Ich bin Musiker. Ich spiele Jazzgitarre.«
Einen Moment lang starrte ich ihn zögernd an. »Haben Sie schon mal was von Daniel Wade gehört?«
»Klar. Er war Jazzpianist hier in der Gegend. Jeder hat von ihm gehört. Er war allerdings seit Jahren nicht mehr in der Stadt. Ein Freund von Ihnen?«
Ich ging von der Wand weg und nahm meine Runden wieder auf. »Ich war mal mit ihm verheiratet.«
»Mit ihm verheiratet ?«
»Ja,
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