Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
ließ sich treiben. Hatte die Zensuren fürs College, und, weiß Gott, irgendwo hätte ich das Geld dafür aufgetrieben, aber es interessierte ihn nicht. Nichts interessierte ihn. Oh, er hat gearbeitet, aber das reichte hinten und vorne nicht.«
»Nahm er Drogen?«
»Ich glaube nicht. Zumindest gab es dafür keine Anzeichen, die ich erkennen konnte. Der Junge trank sehr viel. Reva dachte, es läge daran, aber ich weiß nicht. Er ging gern weg. Er war die ganze Nacht unterwegs, verschlief das Wochenende und hing mit Typen wie Bobby Callahan herum, die gesellschaftlich weit über uns stehen. Dann fing er an, mit Bobbys Stiefschwester Kitty zu gehen. Gott, dieses Mädchen ist vom Tag ihrer Geburt an ein Problem gewesen. Da war ich es dann leid, ihn zu beherbergen. Wenn er nicht zur Familie gehören wollte, auch gut. Dann geh aber woanders hin und verdien dir deinen eigenen Unterhalt. Glaube nicht, du könntest dieses Haus ausnutzen, um dir das Essen und die Wäsche machen zu lassen.« Er hielt inne und sah zu mir herüber. »War das falsch? Das frage ich Sie.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Wie kann man so eine Frage überhaupt beantworten? Kinder kommen von der Bahn ab, und dann fangen sie sich wieder. In vielen Fällen hat das gar nichts mit den Eltern zu tun. Wer weiß schon, woran das liegt?«
Er schwieg und starrte zum Horizont hinaus. Seine Lippen umschlossen die Zigarre wie das Verbindungsstück eines Schlauchs. Er sog Nikotin ein und blies dann eine Rauchwolke aus. »Manchmal frage ich mich, wie helle er war. Vielleicht hätte er zu einem Therapeuten gehen sollen, aber woher sollte ich das wissen? Reva sagt das jetzt immer. Was macht ein Psychiater mit einem Kind, das keinen Antrieb hat?«
Auf all das hatte ich keine Erwiderung, also gab ich verständnisvolle Laute von mir und beließ es dabei.
Kurzes Schweigen. Dann: »Ich hörte, Bobby ist total fertig.«
Sein Ton war zögernd, eine vorsichtige Frage nach einem verhaßten Rivalen. Er hatte Bobby wahrscheinlich mehr als hundertmal den Tod gewünscht und sein Glück, überlebt zu haben, verflucht.
»Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht mit Rick tauschen würde, wenn er könnte«, gab ich zurück, indem ich mein eigenes Gefühl dazu äußerte. Ich wollte keine neue Woge der Aufregung in Gang setzen, doch ich wollte auch nicht, daß er den Verdacht hegte, Bobby könne irgendwie »glücklicher« sein als Rick. Bobby mußte alles geben, um sein Leben in Griff zu kriegen, und das war ein Kampf.
Unterhalb von uns kam ein hellblauer alter Ford in Sicht, der ratternd Auspuffgase spuckte. Der Fahrer drehte weit um mein Auto herum und blieb stehen, offenbar, um eine automatische Garagentür zu bedienen. Der Wagen tastete sich vorsichtig an uns vorbei außer Sicht, und einen Moment später hörte ich den gedämpften Klang einer Wagentür, die zugeworfen wurde.
»Das ist meine Frau«, meinte Phil, als der Mechanismus der Garagentür unter unseren Füßen rumpelte.
Reva Bergen stapfte, beladen mit Einkaufstüten, mühsam den steilen Weg hinauf. Mit Befremden registrierte ich, daß Phil keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen. Sie sah uns, als sie die Veranda erreicht hatte, und zögerte. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Selbst auf diese Entfernung hatte ihr Blick etwas Unbestimmtes, das deutlicher wurde, als sie schließlich kurze Zeit später aus der Hintertür trat. Sie hatte spülwasserblonde Haare und den erschöpften Ausdruck, den Frauen um die fünfzig manchmal bekommen. Ihre Augen waren klein und fast ohne Wimpern. Blasse Augenbrauen, blasse Haut. Sie war zart und dürr, und die Hände an ihren schmalen Gelenken wirkten plump wie Arbeitshandschuhe. Die beiden schienen so extrem wenig zusammenzupassen, daß ich das ungebetene Bild ihres Ehebetts schnell wegschob.
Phil erklärte, wer ich war und die Tatsache, daß ich den Unfall untersuchte, bei dem Rick ums Leben gekommen war.
Ihr Lächeln war gemein. »Bobby hat also Gewissensbisse?«
Phil sprang ein, bevor ich eine Antwort formuliert hatte. »Ich bitte dich, Reva. Es kann doch nichts schaden. Du hast selbst gesagt, daß die Polizei —«
Abrupt wandte sie sich um und ging wieder hinein. Verlegen schob Phil die Hände in die Taschen. »Scheiße. So ist sie, seitdem es passiert ist. Die Dinge haben sie aufgebracht. Es war schon keine Freude, mit mir zusammenzuleben, aber diese Geschichte hat ihr das Herz gebrochen.«
»Ich muß los«, meinte ich. »Aber wenn Sie möchten, können Sie mir
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