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Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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streckte eine Hand aus. Ich ging zu ihr und kniete mich neben den Sessel. Ich nahm ihre Hand — klein und kalt — und drückte sie an meine Wange.
    »Oh, Glen, es tut mir leid. Es tut mir so leid«, flüsterte ich.
    Sie nickte zur Bestätigung und machte ein tiefes Geräusch in ihrer Kehle, das nicht einmal ein deutlich artikuliertes Weinen war. Es war ein viel primitiveres Geräusch. Sie begann zu sprechen, aber sie bekam nur einen in die Länge gezogenen, stotternden Satz heraus, Halbsprache ohne jeden Sinn. Was konnten ihre Worte auch schon ändern? Es war geschehen, und nichts konnte es rückgängig machen. Sie begann zu weinen, wie Kinder weinen, mit tiefen, bebenden Schluchzern, die nicht mehr aufhörten. Ich hielt weiter ihre Hand und bot ihr so ein Ankertau in diesem aufgewühlten Meer des Kummers an.
    Schließlich spürte ich, daß sich der Sturm verzog, wie eine leichter werdende Regenwolke weitertreibt. Die Krämpfe lösten sich. Sie ließ mich los, lehnte sich zurück und atmete tief ein. Dann nahm sie ein Taschentuch heraus, tupfte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase. Wie man es nach einer Schluckaufattacke macht, hielt sie inne und konzentrierte sich offenbar auf ihr Inneres.
    Dann seufzte sie. »Mein Gott, wie soll ich das überleben?« rief sie, und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und rollten das Gesicht hinab. Einen Moment später hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen und führte kopfschüttelnd noch einmal den Trockenvorgang durch. »Jesus. Scheiße. Ich glaube nicht, daß ich das schaffe, Kinsey. Verstehen Sie? Es ist einfach zu viel, und ich bin nicht stark genug dafür.«
    »Soll ich jemanden rufen?«
    »Nein, jetzt nicht. Es ist zu spät, und wozu auch? Morgen früh soll Derek sich mit Sufi in Verbindung setzen. Sie wird kommen.«
    »Wie ist es mit Kleinert? Möchten Sie, daß ich ihm Bescheid gebe ?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Bobby konnte ihn nicht ausstehen. Lassen Sie nur. Er wird es früh genug erfahren. Ist Derek zurück?« Ihre Stimme klang jetzt ängstlich, ihre Gesichtszüge waren angespannt.
    »Ich glaube nicht. Möchten Sie einen Drink?«
    »Nein, aber bedienen Sie sich, wenn Sie möchten. Der Alkohol ist da drüben.«
    »Später vielleicht.« Ich wollte etwas, aber ich war mir nicht sicher, was. Keinen Drink, ich fürchtete, der Alkohol könnte die dünne Schicht meiner Selbstbeherrschung zerreißen. Das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, wäre, sich mir zuwenden und mich trösten zu müssen. Ich setzte mich in den Sessel ihr gegenüber, und mir schoß ein Bild in den Sinn. Ich dachte daran, wie Bobby sich vor just zwei Abenden zu ihr hinabgebeugt hatte, um ihr gute Nacht zu sagen. Er hatte sich automatisch umgedreht, damit er ihr die gesunde Seite seines Gesichts darbieten konnte. Es war einer seiner letzten Abende auf dieser Erde gewesen, aber weder hatte es einer von ihnen geahnt noch ich. Ich schaute zu ihr auf, und sie sah mich an, als wüßte sie, was in meinem Kopf vorging. Ich sah weg, aber nicht schnell genug. Etwas in ihrem Gesicht ergoß sich über mich wie Licht durch eine Schwingtür. Trauer schoß durch den Spalt und erwischte mich ungeschützt. Ich brach in Tränen aus.

12

    Nichts geschieht ohne Grund, aber das heißt nicht, daß es auch einen Sinn gibt. Die nächsten paar Tage waren ein Alptraum, zumal ich nur eine Nebenrolle in diesem Schauspiel um Bobbys Tod hatte. Weil ich in den ersten Minuten ihres Leids erschienen war, schien Glen Callahan auf mich fixiert zu sein, als könnte ich ihr in ihrem Schmerz Trost spenden.
    Dr. Kleinert hatte eingewilligt, Kitty bis nach der Bestattung zu entlassen. Man hatte auch einen Versuch unternommen, Bobbys leiblichen Vater in Übersee zu erreichen, doch er hatte nicht reagiert, und es schien keinem etwas auszumachen. Inzwischen strömten Hunderte von Menschen durch die Leichenhalle: Bobbys Freunde, alte Klassenkameraden von der High-School, Freunde der Familie und Geschäftspartner, all die Würdenträger der Stadt, Mitglieder der verschiedenen Ausschüsse, in denen Glen saß. Ein Who’s Who von Santa Teresa. Nach jener ersten Nacht war Glen total gefaßt — ruhig und freundlich kümmerte sie sich um jedes Detail, das Bobbys Beerdigung betraf. Sie würde angemessen sein. Sie würde von einem Höchstmaß an Geschmack gekennzeichnet sein. Ich würde die ganze Zeit zur Verfügung stehen.
    Ich hatte angenommen, Derek und Kitty würden meine permanente Anwesenheit mißbilligen, doch sie

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