Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
gebrochenen Knochen und Nervenzusammenbrüche und Drogenmißbräuche... hundert lebensgefährliche Ereignisse an jedem einzelnen Wochentag. Und über allem hing dieses Flair heimlicher Sexualität, das den Stoff für Schundfilme liefert.
Ich fuhr zur dritten Etage hinauf und wandte mich nach links, als ich bei der Drei Süd den Fahrstuhl verließ. Die großen Doppeltüren waren wie gewöhnlich verschlossen. Ich klingelte, und einen Moment später klapperte eine stabile schwarze Frau in Jeans und einem königsblauen T-Shirt mit ein paar Schlüsseln und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sie trug eine dieser gewichtigen Krankenschwesternuhren und Schuhe mit fünf Zentimeter hohen Kreppsohlen gegen Senkfüße und Krampfadern. Ihre Augen waren auffallend haselnußbraun, und ihr Gesicht strahlte Kompetenz aus. Das weiße Plastikschild auf ihrer Brust gab ihren Namen mit Natalie Jacks, LVN, an. Ich zeigte Miss Jacks die Fotokopie meiner Lizenz, fragte, ob ich mit Kitty Wenner sprechen könne, und erklärte, ich sei eine Freundin der Familie.
Sorgfältig sah sie sich meine Papiere an und trat schließlich zurück, um mich einzulassen.
Sie schloß die Tür hinter mir und führte mich den Flur hinunter zu einem Zimmer fast am Ende. Auf dem Weg erhaschte ich kurze Blicke in die Räume. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte — zuckende und lallende Frauen, Männer, die frühere Präsidenten oder Dschungeltiere imitierten. Oder daß sich alle in einer von Medikamenten hervorgerufenen Benommenheit befanden, mit geschwollenen Zungen und rollenden Augen. Statt dessen sah ich im Vorbeigehen aus jeder einzelnen Tür neugierig auf mich gerichtete Blicke, als sei ich ein Neuzugang, der grelle Schreie oder Vogelrufe ausstoßen und sich die Kleider vom Leib reißen könnte. Ich stellte keinerlei Unterschiede zwischen ihnen und mir fest, was ich beunruhigend fand.
Kitty war wach und angezogen, die Haare noch feucht vom Duschen. Ausgestreckt lag sie auf ihrem Bett, mit stützenden Kissen im Rücken und einem Frühstückstablett auf dem Nachttisch neben ihr. Sie trug einen Seidenkaftan, der an ihren Knochen schlaff wie an einem Kleiderständer herunterhing. Ihre Brüste waren nicht größer als die Knöpfe auf einem Polstersessel, und ihre Arme glichen nackten Knochen, die mit einer Haut so dünn wie Seidenpapier überzogen waren. Ihre Augen wirkten riesengroß und gequält, und die Schädelform war so scharf ausgeprägt, daß sie aussah wie siebzig. Die Caritas hätte ihr Foto gut in einer Anzeige für Pflegeeltern verwenden können.
»Du hast Besuch«, sagte Natalie.
Kittys Blick huschte in meine Richtung, und einen Moment lang konnte ich sehen, wie verängstigt sie war. Sie starb. Sie mußte das wissen. Die Energie sickerte ihr aus den Poren wie Schweiß.
Natalie untersuchte das Frühstückstablett. »Du weißt ja, daß sie dich künstlich ernähren werden, wenn das nicht besser wird. Ich dachte, du hättest einen Vertrag mit Dr. Kleinert.«
»Ich habe etwas gegessen«, erklärte Kitty.
»Nun ja, es ist nicht meine Aufgabe, dich zu nerven, aber er wird bald zur Visite kommen. Versuch noch ein paar Happen davon zu essen, während du dich mit ihr unterhältst, okay? Wir sind doch auf deiner Seite, Baby. Ehrlich.«
Natalie lächelte uns beide kurz an, verließ dann den Raum und ging ins Zimmer nebenan, wo wir sie mit jemand anderem sprechen hörten.
Kittys Gesicht war von einem rosa Farbton überzogen, und sie kämpfte mit den Tränen. Sie langte nach einer Zigarette, zündete sie an und hustete etwas gegen ihren knochigen Handrücken.
Dann schüttelte sie den Kopf und zauberte ein Lächeln hervor, das eine gewisse Liebenswürdigkeit an sich hatte. »Gott, ich kann kaum glauben, daß ich mich in diese Situation gebracht habe«, meinte sie und fragte dann versonnen: »Glaubst du, Glen wird mich vielleicht besuchen kommen?«
»Ich weiß nicht. Eventuell fahre ich nach unserem Gespräch zu ihr. Wenn du möchtest, kann ich es ihr gegenüber erwähnen.«
»Sie hat Daddy rausgeschmissen.«
»Das habe ich gehört.«
»Wahrscheinlich schmeißt sie mich als nächste raus.«
Ich konnte sie nicht länger anschauen. Ihre Sehnsucht nach Glen war so deutlich, daß es mir weh tat, sie zu sehen. Ich betrachtete das Frühstückstablett: eine Schale mit frischem Obst, ein Blaubeerkuchen, ein Becher Erdbeerjoghurt, Granola, Orangensaft, Tee. Es gab kein Anzeichen dafür, daß sie irgend etwas davon gegessen hatte.
»Möchtest du etwas
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