Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke
schrecklich genug. Aber wegen eines Fehlers zu sterben. Mein Gott! Wenigstens hat sie nicht leiden müssen. Sie schwören, sie wäre sofort tot gewesen.« Sie schluchzte auf. Mit den Händen formte sie ein Zelt, atmete schwer.
»Weißt du, wer sie umgebracht hat?«
»Natürlich nicht! Absolut nicht! Für welch ein Monster hältst du mich denn? Meine eigene Schwester...« Ihr wütender Ton verließ sie, sie weinte. Ich hätte ihr gern geglaubt, aber ich war mir nicht sicher. Ich war müde, selbst zu sehr betroffen, um Falsches von Wahrheit zu unterscheiden. Sie hob das tränennasse Gesicht.
»Olive hat erklärt, sie würde nicht für dich stimmen«, sagte ich versuchsweise.
»Du bist so gemein!« kreischte sie mich an. »Wie kannst du es wagen! Verschwinde! Laß mich in Ruhe!«
Bass tauchte auf, sah mich fragend an. Ich wirbelte im Rollstuhl herum und schob mich auf den Gang hinaus, vorbei an einem Zimmer, in dem jemand mit leiser, hoffnungsloser Stimme um Hilfe rief. Ein durchsichtiger Plastikschlauch lief unter der Decke hervor in einen Behälter mit Urin, der unter dem Bett stand. Es sah aus wie Limonade.
Olive holte normalerweise die Post herein. Ich hatte sie erst einen Tag zuvor achtlos die Briefe auf den Tisch in der Halle werfen sehen. Vielleicht war sie wirklich das auserwählte Opfer gewesen, selbst wenn das Paket an ihn adressiert war. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was sie tatsächlich gesagt hatte, auf wessen Seite sie in dem Machtkampf zwischen Ebony und Lance stand. Vielleicht war das seine Art, die anderen zu überreden, sich hinter ihn zu stellen.
Darcy wartete in meinem Zimmer, als ich zurückkam. »Andy ist weg«, empfing sie mich.
17
Während Darcy mich in alle Einzelheiten einweihte, hievte ich mich wieder ins Bett zurück. Andy war am Vortag gegen 10 Uhr ins Büro gestürzt. Mac hatte darauf bestanden, bis um 17 Uhr geöffnet zu halten, obwohl es Silvester war. Andy hatte auf seinem Terminkalender eine Verabredung zum Lunch sowie eine Besprechung um 14 Uhr mit einem der Vizepräsidenten der Gesellschaft. Darcy berichtete, Andy sei in Panikstimmung gewesen, Sie hatte versucht, ihm zu sagen, wer für ihn angerufen hatte, aber er hatte sie unterbrochen, war in sein Büro geeilt und hatte angefangen, seine persönlichen Sachen in seinen Aktenkoffer zu werfen, ebenso wie sein Telefonverzeichnis. Das Nächste, was sie wußte, war, daß er fort war.
»Es war zu verrückt, um es in Worte zu fassen«, meinte sie. »So etwas hat er noch nie getan. Und warum auch sein Telefonregister? Ich hatte es schon durchgesehen und nichts gefunden, aber wieso hat er es mitgenommen?«
»Vielleicht ist er geisteskrank.«
»Muß er wohl sein. Jedenfalls haben wir ihn für den Rest des Tages nicht mehr gesehen. Also bin ich nach der Arbeit in mein Auto gehüpft und zu seiner Wohnung gefahren.«
»Ganz bis raus nach Elton?«
»Na ja. Mir hat sein Verhalten einfach nicht gefallen. Der hatte wirklich seine Siebensachen gepackt, und ich wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Ich hab’ seinen Wagen nirgends gesehen, also bin ich nach oben zu seiner Wohnung gegan gen und hab’ durchs Fenster geschaut. Die Wohnung war ein Schweinestall, und alle Möbel waren weg. Da war vielleicht noch ein kleiner Tisch im Wohnzimmer, aber das war’s dann auch.«
»Mehr hat er nicht gehabt«, erklärte ich. »Sieht aus, als hätte Janice ihm alles weggenommen und würde jetzt nach mehr schreien.«
»Die kann schreien, soviel sie will, Kinsey, der Mann ist fort. Sein Nachbar hat gesehen, wie ich durchs Fenster gespäht hab’, und kam raus und hat mich gefragt, was ich da wollte. Ich hab, ihm die Wahrheit gesagt. Hab’ erzählt, ich würde mit Andy arbeiten und wir würden uns Sorgen machen, weil er das Büro so hastig verlassen hat, ohne uns zu sagen, was wir mit seinen Terminen machen sollen. Der Mann behauptet, er hätte Andy gestern morgen die Treppe runtergehen sehen, mit zwei großen Koffern, die ihm an die Beine schlugen. Sagte, das wäre so gegen halb zehn gewesen. Er muß dann direkt ins Büro gekommen sein, sein Zeug gepackt haben und dann ab durch die Mitte. Ich habe letzte Nacht alle paar Stunden in seiner Wohnung angerufen, heute morgen auch noch mal. Aber da ist immer der Anrufbeantworter an.«
Ich dachte kurz darüber nach. »Haben die Zeitungen über Olives Tod berichtet?«
»Bis heute morgen noch nicht, und da war er schon fort.«
Ich fühlte eine Welle der Energie in mir, teils Unruhe, teils
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