Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke
ist. Hat er Ihnen was gesagt?«
»Nicht direkt.«
»Haben Sie was dagegen, daß ich reinkomme? Vielleicht können wir gemeinsam herausfinden, was los ist.«
»Also schön«, meinte sie zögernd. »Ich nehme an, das geht in Ordnung. Er hat mir nie erzählt, daß er jemandem diese Adresse gegeben hat.«
Sie trat zurück, und ich folgte ihr in die Wohnung. Von einer kleinen, gekachelten Diele gelangte man über zwei Stufen in ein großes Wohnzimmer. Die Wohnung sah aus, als wäre sie von einer Leasingfirma eingerichtet worden. Alles war neu, hübsch und unpersönlich. Eine fußhohe echte Fichte, die mit Zuckerstangen geschmückt war, stand auf dem Couchtisch aus Glas und Messing, aber das war auch das einzige Anzeichen dafür, daß Weihnachten gewesen war.
Lorraine schaltete den Fernseher aus und zeigte auf einen Sessel. Das Polster hatte diese zähe, gummiartige Oberfläche von Kunstleder. Weder Tränen noch Blut oder verschütteter Schnaps konnten dem etwas anhaben. Sie setzte sich, zog am Schritt ihrer Shorts, damit die Naht nicht in ihre privatesten Teile schneiden konnte. »Was sagten Sie? Woher kennen Sie Andy? Arbeiten Sie für ihn?«
»Nicht direkt für ihn, aber für dieselbe Gesellschaft. Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«
»Vor drei Tagen. Hab’ Donnerstag abend mit ihm telefoniert. Er sollte die Kinder Silvester nehmen, ich hätte ihn also sowieso erst morgen gesehen. Aber er ruft immer an, ganz egal, was gerade los ist. Als ich bis heute morgen nichts von ihm gehört hatte, bin ich zu seiner Wohnung gefahren, aber von ihm war nichts zu sehen. Aber warum brauchen Sie ihn am Neujahrstag?«
Ich blieb so nah bei der Wahrheit, wie ich konnte, erzählte ihr, daß er Freitagmorgen verschwunden war, ohne auch nur anzudeuten, wohin er wollte. »Wir brauchen eine der Akten. Wissen Sie etwas von dem Fall, den er gerade bearbeitet hat? Bei Wood/Warren hat es vor ungefähr einer Woche einen Brand gegeben, und ich glaube, er erledigte einen Teil des Papierkrams.«
Ein überraschtes Schweigen trat ein, und die Mauern schlossen sich wieder. »Wie bitte?«
»Hat er das Ihnen gegenüber erwähnt?«
»Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Darcy. Ich bin die Empfangsdame. Ich glaube, ich habe ein paarmal am Telefon mit Ihnen gesprochen.«
Ihr Verhalten wurde vorsichtig, hochoffiziell. »Verstehe. Nun ja, Darcy, er spricht mit mir nicht über seine Arbeit. Ich weiß, daß er die Gesellschaft liebt, und er leistet gute Arbeit.«
»Absolut«, stimmte ich zu. »Und er ist sehr beliebt. Deshalb machten wir uns ja solche Sorgen, als er ohne ein Wort verschwunden ist. Wir dachten, vielleicht eine Familienangelegenheit, ganz plötzlich. Er hat nicht zufällig erwähnt, daß er die Stadt für ein paar Tage verlassen wollte?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ihrer Haltung nach zu schließen, war ich mir fast sicher, daß sie Bescheid wußte. Genauso sicher war ich mir aber auch, daß sie das niemals zugeben würde.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte sie jetzt. »Aber er hat nie ein Sterbenswörtchen mir gegenüber erwähnt. Ehrlich gesagt wäre ich Ihnen sogar für einen Anruf dankbar, wenn er auftauchen sollte. Ich mag nicht hier sitzen und mich sorgen.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Sie können mich unter dieser Nummer erreichen, wenn Sie möchten, und ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas höre.« Ich kritzelte Darcys Namen und meine Telefonnummer auf einen Zettel.
»Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.« Das schienen mir die ersten ehrlichen Worte aus ihrem Mund zu sein.
»Bestimmt«, versicherte ich. Ich persönlich war der Meinung, daß ihm irgend etwas eine Höllenangst gemacht hatte und daß er die Kurve gekratzt hatte.
Sie hatte jetzt ein paar Minuten Zeit gehabt, mein verbranntes, brauenloses Gesicht zu mustern. »Äh, es klingt hoffentlich nicht unhöflich, aber hatten Sie einen Unfall?«
»Ein Gasboiler ist vor meinem Gesicht explodiert«, erklärte ich. Sie gab ein paar mitfühlende Laute von sich, und ich hoffte, daß diese Lüge nicht auf mich zurückfallen würde. »Tut mir leid, daß ich Sie an einem Feiertag belästigt habe. Ich lasse es Sie wissen, wenn wir etwas von ihm hören.« Ich stand auf, und sie ging mit mir zur Wohnungstür.
Ich ging zu Fuß heim, durch Straßen, die schon langsam dunkel wurden, obwohl es noch nicht einmal fünf Uhr war. Die Wintersonne war untergegangen, und die Lufttemperatur sank mit ihr. Ich war erschöpft, wünschte mir insgeheim,
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