Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
immer vom Regen der letzten Nacht getränkt. Die schäbigen Hügel rings um das Gefängnis wirkten heiter. Die Vögelein sangen. Der Verkehr schien in Wellen über die Schnellstraße zu branden, ein wohltuendes Geräusch, wie das Meer bei Flut. Ich sehnte mich nach einer Dusche, einem Frühstück, meiner Ruhe. Ich musste demnächst irgendeinen Vorwand finden, um Dolan anzurufen und herauszufinden, was zum Teufel hier eigentlich gespielt wurde. Aber erst mal würde ich mich an ihre Fersen heften.
Der erste Programmpunkt bestand natürlich darin, irgendwie hier wegzukommen. Ich wühlte in meinem Plastikbeutel und kam mir vor wie gerade aus der Irrenanstalt entlassen. Ich besaß zehn Dollar in bar, die ich für ein Taxi auf den Kopf zu hauen beschloss. Normalerweise bin ich zu geizig, um Taxi zu fahren, aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich es verdient hatte. Wir marschierten gemeinsam die lange Zufahrt entlang. Ich musste wohl einen bemerkenswerten Anblick bieten, in meinem Trägerhemd, den zerknitterten schwarzen Hosen und den weißen Söckchen, die jetzt schwarz waren, wo die nassen Pumps abgefärbt hatten. Bibianna sah auch nicht gerade toll aus. Das Rot ihres Kleids war bei Tag wenig schmeichelhaft und passte nicht zu den Stöckelschuhen, die im Regen völlig die Form verloren hatten. Sie legte im Gehen frischen Lippenstift auf, indem sie sich die aufgeklappte Puderdose vor die Nase hielt. Die Strumpfhose hatte sie ausgezogen, weil sie von den Abenteuern der letzten Nacht voller Laufmaschen war. Ihre Beine sahen im harten Tageslicht bleich und knochig aus, und ihr Kleid hatte am Bauch Akkordeonfalten. Aber dennoch — es gibt Situationen im Leben, in denen man schon vor Begeisterung ausflippt, wenn man sich nur wieder frei bewegen kann. Es lag hinter uns — die Maschendrahtzäune, die ständig brennenden Lichter, die Schlösser, die vergitterten Fenster. Trotz des wunderbaren Freiheitsgefühls fiel mir nichts ein, was ich ihr hätte sagen können. »Vielen Dank... war wirklich lustig... müssen wir unbedingt bald wieder machen. « Die normalen Regeln der Höflichkeit schienen mir in diesem Fall irgendwie nicht anwendbar.
Bibianna steckte die Puderdose wieder in ihre Handtasche. Sie wirkte nervös.
»Haben die Bullen Sie eigentlich schon wegen der Schießerei ausgefragt?«, wollte ich wissen.
»Noch nicht. Irgend so ein Typ von der Mordkommission will heute zu mir nach Hause kommen.«
»Was wollen Sie ihm erzählen?«
»Ach, das ist sowieso egal. Ich muss hier verschwinden, bevor Raymond auftaucht...«
Mir selbst war auch ziemlich flattrig. Was zum Teufel wurde hier gespielt? Wo war Dolan? Was sollte ich tun?
Plötzlich krallte sich Bibianna so fest an meinen Arm, dass sich die Nägel in mein Fleisch gruben. »Heiliger Himmel«, flüsterte sie, die Augen starr geradeaus gerichtet.
Ich folgte ihrem Blick und merkte mit Erschrecken, dass er einem dunkelgrünen Ford galt, der ein Stück weiter die Straße hinunter parkte und hinten so tief hing, dass der Auspuff fast auf dem Boden schleifte. Ihre Angst war so deutlich spürbar, dass sich mir die Härchen im Nacken sträubten.
»Wer ist das?«
»Das ist Raymond. O Gott.« Ihre Stimme versagte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und aus ihrer Kehle kam ein seltsames Quieken. Ich taxierte blitzschnell die Situation, ohne recht zu wissen, was ich tun sollte. Auch das noch. Dawna musste es doch geschafft haben, ihn zu benachrichtigen.
Er hatte bis eben am vorderen Kotflügel gelehnt und die vorbeifahrenden Autos beobachtet. Jetzt hatte er uns gesichtet und sich in Marsch gesetzt.
»Ganz ruhig, Bibianna. Keine Panik. Wir laufen zurück zum Gefängnis...«
Sie schüttelte den Kopf. »Auch wenn uns die Bullen nach Hause bringen — er kriegt mich ja doch. Lassen Sie mich nicht allein. Schwören Sie’s mir. Was auch passiert — spielen Sie einfach mit. Bringen Sie ihn bloß nicht in Rage, sonst haut er alles kurz und klein und Sie mit dazu.«
»Ja, klar. Nur mit der Ruhe. Ich geh nicht weg.«
»Versprechen Sie’s mir.«
»Ich versprech’s.«
Ich merkte erst gar nichts. Auf die Entfernung wirkte der Typ ganz normal. Er war sehr groß und schlank, mit breiten Schultern und schmaler Taille. Er sah aus, wie aus einem Modejournal entsprungen: Ledermantel, Bügelfaltenhosen, spitze schwarze Lacklederschuhe mit Silberkappen an den Zehen, verspiegelte Sonnenbrille. Latino oder Italiener: dunkles Haar, olivfarbene Haut. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig.
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