Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Insassen hier auf Tabletts geladen, die in großen Wärmewagen gestapelt wurden. Die wurden dann im Lastenaufzug in die Gefängnisabteilungen befördert.
Tommy Ryckman hatte immer noch den Riesenappetit eines Heranwachsenden. Er nahm sich eine doppelte Portion Lasagne, zwei Schinken-Käse-Toasts, einen Berg Mais und einen gleich großen Berg Pommes frites, eine große Schüssel Salat mit massenhaft Thousand-Island-Soße darüber. Zum Schluß zwängte er noch zwei Behälter Magermilch auf sein Tablett. Ich begnügte mich mit einem Schinken-Käse-Toast und einem bescheidenen Häufchen Pommes frites und wunderte mich, daß ich in dieser Umgebung überhaupt Appetit entwickeln konnte. Wir suchten uns einen freien Tisch und luden ab.
»Hast du schon in Perdido gearbeitet, als Jaffe seine Firma gegründet hat?« fragte ich.
»Aber ja«, antwortete Tommy Ryckman. »Aber ich lasse mich natürlich niemals auf solche Geschäfte ein. Mein Vater hat immer gesagt, ich wäre besser dran, wenn ich mein Geld in eine Kaffeebüchse schmeiße. Depressionsmentalität, aber der Rat ist gar nicht so schlecht. Jedenfalls kannst du nur hoffen, daß nicht bekannt wird, daß Jaffe noch unter uns weilt. Ich habe zwei Kollegen, die er reingelegt hat. Wenn der sein Gesicht zeigt, wird er sehr schnell eine ganze Horde wütender Mitbürger auf den Fersen haben.«
»Was geht in solchen Leuten eigentlich vor?« fragte ich. »Ich verstehe das nicht.«
Er spritzte eine Ladung Ketchup auf seine Pommes und reichte mir die Flasche weiter. Es war offensichtlich, daß wir eine Vorliebe für ungesundes Essen teilten.
Er aß hastig, die Aufmerksamkeit auf seinen Teller konzentriert, während der Berg, den er vor sich hatte, langsam kleiner wurde. »Das System basiert auf Vertrauen — ob du nun Schecks, Kreditkarten oder Verträge irgendwelcher Art hast. Betrüger fühlen sich in keiner Weise moralisch verpflichtet, ihre Abmachungen zu erfüllen. Das Kontinuum reicht von der finanziellen Verantwortungslosigkeit und der Bauernfängerei bis zu Schwindel und Betrug. Man erlebt es ständig. Banker, Immobilienmakler, Anlageberater — du kannst jeden nehmen, der mit großen Geldsummen zu tun hat. Nach einer Weile sind sie offenbar einfach nicht mehr fähig, die Finger davon zu lassen.«
»Die Versuchung ist zu groß«, meinte ich, während ich mir die Hände an einer Papierserviette abwischte.
»Es ist mehr als das. Meiner Meinung nach geht es diesen Leuten nicht nur ums Geld. Das Geld repräsentiert gewissermaßen nur die Punktzahl. Man braucht diesen Leuten nur zuzuschauen, dann merkt man nach einer Weile, daß es das Spiel ist, auf das sie süchtig sind. Das gleiche gilt für die Politiker. Es ist ein power trip. Uns normale Sterbliche brauchen sie einzig für ihre Selbstbestätigung.«
»Es wundert mich, daß Leute aus eurer Behörde auf den Schwindel reingefallen sind. Gerade ihr hier müßtet doch eigentlich gescheiter sein. Ihr habt doch dauernd mit solchen Geschichten zu tun.«
Kauend schüttelte er den Kopf. »Man hofft doch immer auf den Volltreffer, den großen Gewinn bei kleinem Einsatz. Da steht unsereiner auch nicht drüber.«
»Ich habe mich gestern abend mit Jaffes Expartner unterhalten«, bemerkte ich. »Der scheint mit allen Wassern gewaschen zu sein.«
»Ist er. Kaum war er raus, war er schon wieder im Geschäft. Und was, zum Teufel, sollen wir dagegen tun? Jeder hier in der Gegend weiß, daß der Bursche im Knast war. Aber das macht nichts. Er war noch keinen Tag wieder auf freiem Fuß, da haben sie ihm schon wieder ihr Geld nachgeworfen. Eine Strafverfolgung ist in diesen Fällen gerade deshalb so schwierig, weil die Opfer nicht glauben wollen, daß sie getäuscht worden sind. Sie werden alle von dem Schwindler abhängig, der sie übers Ohr haut. Sobald sie ihm einmal ihr Geld gegeben haben, sind sie darauf angewiesen, daß er Erfolg hat, wenn sie ihr Geld zurückhaben wollen. Und der Schwindler hat natürlich immer Entschuldigungen und Ausflüchte parat, um die Rückzahlung zu verschleppen. Es ist verdammt schwer, in diesen Fällen was zu beweisen. Soundso oft kann die Staatsanwaltschaft sich nicht mal auf die Kooperation der Opfer verlassen.«
»Ich verstehe nicht, wieso gescheite Leute so auf die schiefe Bahn geraten.«
»Ach, wenn man weit genug zurückschaut, kann man’s wahrscheinlich kommen sehen. Jaffe zum Beispiel hat ein abgeschlossenes Jurastudium, aber er ist nie als Rechtsanwalt zugelassen worden. Hat nie die
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