Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Ryckman streckte sich, daß seine Gelenke krachten. »Da mußt du schon den Staatsanwalt fragen. Ich kann nur sagen, mir wär’s recht. Der Junge ist ein gerissenes Früchtchen. Wir sind überzeugt, daß er den Ausbruchsplan ausgearbeitet hat, aber er kann natürlich jetzt sagen, was er will. Zwei seiner Kumpel sind tot und der dritte schwebt in Lebensgefahr. Er wird sich als das unschuldige Opfer hinstellen. Du weißt, wie das läuft. Diese Bürschchen übernehmen doch nie die Verantwortung. Seine Mutter hat ihm schon einen hochkalibrigen Anwalt aus Los Angeles besorgt.«
»Wahrscheinlich mit einem Teil des Geldes aus der Lebensversicherung des Vaters«, sagte ich. »Ich wünschte, der gute Wendell Jaffe würde klammheimlich aufkreuzen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß er das riskiert, aber meine Ahnungen wären dann bestätigt.«
»Hm, diese Hoffnung wirst du wahrscheinlich begraben müssen. Bei einem Fall wie diesem, der solche Wellen geschlagen hat, wird die Verhandlung wahrscheinlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit und bei strengsten Sicherheitsmaßnahmen stattfinden. Der Anwalt des Jungen wird kräftig auf den Putz hauen und alle möglichen Argumente dafür bringen, daß sein Mandant als Jugendlicher zu behandeln sei. Er wird eine Untersuchung beantragen, Gutachten anfordern und einen Riesenzirkus veranstalten, und solange die Frage nicht entschieden ist, wird er behaupten, sein Mandant hätte ein Recht auf Jugendschutz.«
»Es gibt wohl keine Möglichkeit für mich, seine Strafakte einzusehen?« sagte ich. Die Frage war eigentlich völlig überflüssig, aber manchmal erlebt man Überraschungen, auch mit Bullen.
Tommy Ryckman verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte mir mit einer Art brüderlicher Nachsichtigkeit zu. »Unmöglich«, sagte er milde. »Aber du kannst es ja mal bei der Zeitung probieren. Die Reporter können dir wahrscheinlich alles besorgen, was du haben willst. Ich weiß nicht, wie sie’s machen, aber sie scheinen ihre kleinen Tricks zu haben.« Er beugte sich vor. »Ich wollte gerade zum Mittagessen gehen. Hast du Lust, mir Gesellschaft zu leisten?«
»Gern«, antwortete ich.
Als er aufstand, wurde mir bewußt, wie sehr er noch gewachsen war, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und da war er schon über einen Meter achtzig groß gewesen. Jetzt hielt er die Schultern leicht nach vorn gekrümmt und trug den Kopf halb zur Seite geneigt, vielleicht weil er hoffte, dann einen betäubenden Zusammenstoß mit dem Türsturz vermeiden zu können, wenn er ein Zimmer betrat oder verließ. Ich hätte Geld darauf gewettet, daß seine Frau höchstens einen Meter fünfzig groß war und ständig seine Gürtelschließe vor Augen hatte. Beim Tanzen sahen die beiden wahrscheinlich aus, als begingen sie gerade einen obszönen Akt.
»Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich unterwegs noch ein paar Dinge erledige.«
»Nein, nein, das ist ganz in Ordnung«, versicherte ich.
Wir traten den Weg durch das Gewirr von Korridoren an, die die einzelnen Büros und Abteilungen miteinander verbanden. Sie Wurden alle von Videokameras überwacht, und mehrmals mußten wir Sicherheitskontrollen passieren. Von einer Zone zur anderen trat eine subtile Veränderung der Gerüche ein: Nahrungsmittel, Bleiche, brennende Chemikalien, als hätte jemand den Plastikring um ein Sechserpack Limonadendosen angezündet, muffige Wolldecken, Bodenwachs, Gummireifen. Tommy Ryckman entledigte sich diverser administrativer Aufgaben, Dinge von minderer Bedeutung, die im Amtsjargon abgehandelt wurden. In der Computerabteilung arbeitete eine überraschend hohe Zahl von Frauen — aller Altersstufen und aller Ausführungen, meist in Jeans oder Polyesterhosen. Die Leute gingen, wie ich bemerkte, angenehm kameradschaftlich miteinander um.
Schließlich erreichten wir die kleine Kantine für die Angestellten. Auf der Speisekarte standen an diesem Tag Lasagne, Schinken-Käse-Toast, Pommes frites und Mais. Ein bißchen knapp an Fett und Kohlehydraten für meinen Geschmack. Es gab auch eine Salatbar, die in Behältern aus rostfreiem Stahl Eisbergsalat, geraspelte Karotten, grüne Paprikaringe und Zwiebeln anbot. Das Menü für die Häftlinge war auf eine Tafel geschrieben: Bohnensuppe, Schinken-Käse-Toast, Bœuf Stroganoff oder Lasagne, Weißbrot, Pommes frites und der Mais, der nie fehlen durfte. Anders als im Gefängnis von Santa Teresa, wo die Häftlinge sich selbst bedienten, wurden die Speisen für die
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